Autismus Anhang 4
Diagnose
Der Begriff Autismus steht für ein breites Spektrum leichter bis schwerer Entwicklungsstörungen. Meist versteht man darunter den frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom), der bereits in den ersten 3 Lebensjahren auftritt. Eines von 100 Kindern ist betroffen, von den Jungen sogar einer von 70.
Die Diagnose erfolgt anhand typischer Kombinationen von Merkmalen wie eine verspätete oder nicht vorhandene Sprachentwicklung und motorische Auffälligkeiten. Ebenso häufig sind stereotype Verhaltensweisen, etwa ständiges Wedeln mit der Hand, sowie soziale Schwächen wie das Vermeiden von Augenkontakt. Mildere Formen sind der atypische Autismus und das Asperger-Syndrom, auf die weniger Merkmale zutreffen, so kann die Sprachentwicklung normal sein.
Auslöser und Heilung
Auslöser sind Veränderungen des Gehirns, die zu
Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen führen. Als Ursachen gelten erbliche
Faktoren und biologische Einflüsse, etwa Infektionskrankheiten.
Leben mit der Krankheit
Trotz ihrer Einschränkungen setzen sich Autisten selbst dafür ein, nicht als krank eingestuft zu werden. Ihr Argument: Sie nehmen die Welt nur auf veränderte Weise wahr. Und führen oft ein ebenso zufriedenes Leben wie
Nicht-Autisten. Der Autismus gilt zwar als unheilbar, Studien belegen aber, dass eine frühe Diagnose und etwa eine gezielte Musik- oder Verhaltenstherapie die Symptome mildern können und so die Lebensqualität
wesentlich erhöhen können. In einem Vergleich autistischer und nicht autistischer Probanden konnten Forscher des McLean Hospital in Massachusetts mithilfe eines Hirnscanners eine autistische Störung mit 94-prozentiger Sicherheit erkennen – bestimmte Hirnareale waren verändert. Das nährt Hoffnungen auf frühzeitigere und zuverlässigere Diagnosen.
ZEIT ONLINE
Gesundheit
Autismus "Die Andersartigkeit als Reichtum"
Timothy Archibald ist Fotograf – und Vater eines
autistischen Jungen. Die vergangenen drei Jahre hat er damit verbracht, Elijah
zu fotografieren, auf der Suche nach einem Zugang zu dessen Welt.
ZEIT Wissen: Herr Archibald, Sie machen Fotos von Ihrem Sohn – wie eigentlich alle Eltern ihre Kinder fotografieren. Allerdings gibt es bei Ihnen einen entscheidenden Unterschied: Ihr Sohn leidet an Autismus, und Sie
haben die Bilder auch noch veröffentlicht. Geht das nicht
etwas zu weit?
Archibald: Ich habe mir diese Frage sehr oft gestellt und gemerkt, dass ich sie nicht endgültig beantworten kann. Was bei der Arbeit an dem Buch entstanden ist, hat mich selbst überrascht. Ich habe mich davon mitreißen
lassen. Auch von den beklemmenden Momenten, sie gehören für
mich dazu. Die Beziehung, die dabei entstanden ist, möchte ich um keinen Preis
missen.
ZEIT Wissen: Wie waren die Reaktionen auf die Bilder?
Archibald: Zuerst ziemlich negativ. Viele Menschen waren betroffen und in Sorge darüber, was ich da mit meinem Kind anstelle. Die Kritik war entsprechend hart. Als ich das Projekt später vor einer Runde von Eltern
autistischer Kinder vorstellte, gab es dann aber auch ganz
andere Reaktionen.
ZEIT Wissen: Welche?
Archibald: Diese Eltern sahen vor allem Alltägliches in den Bildern, Dinge, die auch ihre Kinder ständig machen – ich hatte sie nur ansprechend dokumentiert. Sie waren froh, sich über die gemeinsamen Erfahrungen
austauschen zu können. Manche schickten mir auch eigene
Fotos, auf denen ihre Kinder ähnliche Dinge tun wie Elijah.
ZEIT Wissen: Seit wann wissen Sie, dass Ihr Sohn Autist ist?
Archibald: Als das Projekt vor vier Jahren begann, war Eli fünf. Wir hatten damals noch keine Ärzte besucht, es gab jedoch Anzeichen, Eltern von Freunden und Mitschülern haben uns immer wieder darauf hingewiesen,
dass er nicht so war wie andere in seinem Alter. Aber Eli ist auch kein typischer Autist, der nicht spricht und den Kontakt zu anderen Kindern scheut. Im Gegenteil, er ist sehr kommunikativ, er geht auf eine normale Schule
und bekommt gute Noten.
ZEIT Wissen: Wie äußert sich seine Störung denn?
Archibald: Elijah zeigt zahlreiche stereotype Verhaltensweisen, eine große Begeisterung für mechanische Dinge wie Verschlüsse und Hebel. Er liebt logische Abfolgen, Zahlentabellen und Fahrpläne. Manchmal ahmt er stundenlang einfache Vorgänge und Geräusche nach, wie die Tonbanddurchsage in der U-Bahn: »Die Türen schließen«. Aber Elijah war unser erstes Kind. Als Eltern dachten wir, es ist anstrengend mit ihm, aber so ist es
eben, Kinder zu haben. Erst seit unserem zweiten Kind haben wir einen Vergleich.
ZEIT Wissen: Wie kam es zu dem Fotoprojekt?
Archibald: Ich hatte damals Schwierigkeiten, einen Draht zu meinem Sohn zu finden. Da kam mir die Idee, Fotos von ihm zu machen. Als Fotograf benutze ich die Kamera ja auch beruflich, um mich Personen und Themen
zu nähern. Zuerst begann ich ganz einfach, Eli öfter zu fotografieren, um besser zu verstehen, wie er funktioniert, was ihn umtreibt. Dabei merkte ich, dass er Ideen hatte, die fotografisch sehr spannend waren, Dinge die ich
mir selbst niemals hätte ausdenken können.
Archibald: Nicht direkt. Ich ermutigte ihn, seine Ideen umzusetzen. Manchmal entstanden die Fotos ganz spontan. Manchmal bat ich ihn auch, etwas am nächsten Tag noch einmal bei besserem Licht zu versuchen oder vor
einem anderen Hintergrund. Eli begann im Laufe der Zeit von selbst, mehr zu posieren und auszuprobieren. Oft hatte er etwas im Kopf, das ihn interessierte, und bat mich, ein Foto davon zu machen. So haben wir uns
gegenseitig ergänzt.
ZEIT Wissen: Hatte das Projekt eine positive, vielleicht
sogar therapeutische Wirkung für Ihren Sohn?
Archibald: Ich würde sagen, ja. Ich denke, der intensive Kontakt mit ihm, auch meine ungeteilte Aufmerksamkeit haben ihn ruhiger gemacht. Das lässt sich natürlich nicht verallgemeinern. Aber ich habe ihm mit der
Fotografie eine Sache näherbringen können, die mir viel bedeutet. Vor allem für ihn war das eine Brücke, es hat ihm einen Weg eröffnet, mit seinem Vater zu interagieren. Aber auch mir hat es geholfen. Ich war ihm danach
näher, das hat für uns beide die Situation leichter gemacht.
Es ist dadurch eine Beziehung entstanden, die wir vorher so nicht hatten.
ZEIT Wissen: Das erklärt noch nicht, warum Sie sich dafür
entschieden haben, die Fotos schließlich als Buch zu veröffentlichen.
Archibald: Bis zu dem Zeitpunkt des Fotoprojekts war es für mich ein mühevoller Prozess, mich an meine Rolle als Vater zu gewöhnen und sie auch noch zu genießen. Als ich begriff, dass aus diesem Bemühen heraus solch faszinierende Fotos entstanden, war mir klar, dass ich sie nicht für mich behalten wollte. Ich bin Künstler, Kommunikation ist sehr wichtig für mich. Die Bilder waren so ungewöhnlich. Ich konnte es, ehrlich gesagt, kaum
erwarten, sie mit der Öffentlichkeit zu teilen.
ZEIT Wissen: Wie hat Ihr Sohn auf das Buch reagiert?
Archibald: Als das Buch fertig war, interessierte sich Elijah zuerst überhaupt nicht für das Resultat. Auch während des Projekts selbst fesselte ihn eher der Prozess des Fotografierens und nicht so sehr das, was herauskam. Es dauerte mehr als drei Monate, bis er mich plötzlich um sein eigenes Exemplar des Buchs bat. Aber danach blätterte er immer wieder darin, zeigte mir Bilder und erinnerte sich daran, wie wir sie gemacht haben. Neulich hat
er zum ersten Mal das Interview im Buch gelesen.
"Als Elijah noch kleiner war, fiel sein Verhalten
weniger auf"
ZEIT Wissen: Wie geht es Elijah jetzt?
Archibald: Es wird im Moment eher schwieriger für ihn. Als Elijah noch kleiner war, fiel sein Verhalten weniger auf. Auch andere Kinder machen in dem Alter komische Dinge, und sie haben selber noch keine so starken Wertvorstellungen. Jetzt ist Eli neun Jahre alt. Die anderen Kinder entwickeln sich weiter, sie beginnen, weniger Unsinn zu machen. Dadurch werden die Unterschiede deutlicher, es wird schwieriger für ihn, sich einzufügen.
Es ist anders, als wir es uns hätten vorstellen können, aber
es ist nicht traurig.
ZEIT Wissen: Hoffen Sie auf eine Therapie oder etwas, das
Elijah heilen kann?
Archibald: Nein. Er ist, wer er ist. Ich warte nicht darauf, dass er sich verändert. Natürlich hoffe ich, dass er später mal einen normalen Beruf ausüben können und heiraten wird. Im Moment versuchen wir einfach zu schauen,
wie weit Eli ohne Therapie und ohne Sonderbehandlung kommt.
Wir wollen ihn so normal wie möglich aufwachsen lassen. Ich denke, es ist gut,
seinem Kind zu vermitteln, dass es anders ist, aber dass das okay ist. Die
Andersartigkeit als Reichtum – man muss optimistisch bleiben.
ZEIT Wissen: Weiß Elijah eigentlich von seiner Krankheit?
Archibald: Kürzlich haben wir uns mit ihm zusammengesetzt und ihm gesagt, dass er Autist ist. Wir haben einfach versucht, ihm zu erklären, was das bedeutet – ohne es negativ darzustellen. Wir haben ihm erklärt, dass sein
Gehirn bestimmte Dinge anders verarbeitet, aber ich habe ihm auch gesagt, dass ich das für etwas Positives halte, manchmal sogar einen Vorteil, zum Beispiel weil er sich einige Dinge viel besser merken kann. Er kann etwa
den gesamten Fahrplan unseres Nahverkehrsnetzes auswendig. Es war ein bisschen, als habe Eli das kommen sehen, als habe er geahnt, dass es da irgendetwas gibt, das anders ist an ihm. Aber er hat es nicht so schwer
genommen. Vielleicht liegt das daran, dass er keinen
Vergleich hat, dass er nicht weiß, wie es sich anfühlt, normal zu sein.
ZEIT Wissen: Haben Sie einen Rat für andere Eltern, die sich
in einer ähnlichen Situation befinden?
Archibald: Ich würde Eltern ermutigen, unterschiedliche Strategien auszuprobieren, um eine Verbindung zu ihrem autistischen Kind aufzubauen. Auch wenn es keine Heilung im eigentlichen Sinne gibt, kann sich jede
Zuwendung positiv auswirken, für das Kind und die Eltern. Und letztendlich gibt es nichts Schlimmeres für Eltern, als das Gefühl zu haben, hilflos zu sein und nichts für ihr Kind tun zu können.
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