Exkarnieren Anhang 2
Vergleich: Siehe: Anhang (Rosina Sonnenschmidt) + Anhang 3 (Interview mit Rosina Sonnenschmidt) + Anhang 4 (Aktive Sterbehilfe)
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Gesundheit
Sterbebegleitung "Liebevolles Unterlassen fällt Ärzten schwer"
Ein Gespräch mit dem Arzt und Autor Gian Domenico Borasio über die richtige Begleitung Sterbender
DIE ZEIT: Ihr neues Sachbuch trägt den Titel Über das Sterben. Klingt nicht gerade nach einem Bestseller...
Borasio: Warten wir’s ab. Es ist als eine Hilfsschrift gedacht und behandelt Fragen, mit denen sich jeder irgendwann auseinandersetzen muss. Zum Beispiel Familien, die einen sterbenden Angehörigen begleiten, das sind
immerhin zu jedem gegebenen Zeitpunkt weit über eine Million Familien hierzulande. Ich verbinde besonders eine Hoffnung mit diesem Buch: nämlich die
bei uns in Deutschland weitverbreitete Angst vor dem Lebensende ein paar Millimeter herunterzubringen.
ZEIT: Wie stellen Sie sich das vor? Die Angst vor dem Sterben ist doch etwas vollkommen Kreatürliches.
Borasio: Selbstverständlich. Hinzu kommt aber vor allem die Angst davor, ausgeliefert zu sein, und vor qualvollen Symptomen in der Sterbephase. Das Buch versucht, diese Ängste durch Informationen und praktische Tipps
zu reduzieren.
ZEIT: Was sind Ihrer Meinung nach denn die schlimmsten Fehler in der Behandlung Sterbender?
Borasio: Ein einfaches Beispiel ist, dass Sterbenden reflexhaft Flüssigkeit und Sauerstoff gegeben werden, um zu verhindern, dass sie »verdursten und ersticken«, wie es heißt. Falsch! Dabei
wird genau das Gegenteil erreicht. Stellen Sie sich einen Augenblick lang einen im Bett liegenden Sterbenden vor, der nicht mehr kommunizieren kann. Wie liegt er da?
ZEIT: Wahrscheinlich steht sein Mund offen.
Borasio: Genau. Und der Sauerstoff, über eine Nasenbrille verabreicht, geht aus dem Mund wieder heraus. Das trocknet die Mundschleimhäute aus und verursacht Durstgefühl. Das lässt sich aber zum Beispiel mit konsequenter Mundpflege oder auch kleinen Eiswürfeln gut beheben. Die künstlich zugeführte Flüssigkeit hingegen kann in der Sterbephase nicht ausgeschieden werden, weil die Nieren ihre Funktion einschränken. Dann lagert sich die Flüssigkeit in der Lunge ein und verursacht Atemnot.
ZEIT: Weshalb wird die Atemnot so gefürchtet?
Borasio: Es ist dasjenige Symptom, das schwerste existenzielle Ängste auslöst, und diese Angst verstärkt noch die Atemnot, wodurch sich wiederum die Angst vergrößert – ein Teufelskreis. Das wirksamste Medikament dagegen ist das Morphin. Davor haben aber Ärzte Angst, wegen der atemdämpfenden Wirkung von Morphin, obwohl wir seit 1993 wissen, dass Morphin das beste und sicherste Medikament bei Atemnot ist. Angesichts der vorhandenen Daten stellt die Nichtbehandlung einer terminalen Atemnot mit Morphin eindeutig einen Kunstfehler dar.
ZEIT: Abgesehen von Atemnot haben die meisten von uns aber wohl die größte Angst vor Schmerzen.
Borasio: Schmerz macht etwa nur 1/3 der physischen Symptome am Lebensende aus, und sie sind in der Regel beherrschbar. Die Symptomkontrolle in der modernen Palliativmedizin
ist inzwischen so weit ausgereift, dass die Menschen keine Angst mehr haben müssen, aufgrund von nicht therapierbaren Symptomen qualvoll zu sterben. Die Sorge, dass die Gabe von Morphin oder verwandten Medikamenten bei Schwerstkranken Sucht auslösen oder den Tod beschleunigen könnte, ist längst von der Wissenschaft widerlegt.
ZEIT: Haben Ärzte verlernt, hochbetagte Menschen auf natürliche Weise sterben zu lassen, wie es früher doch offenbar die Regel war?
Borasio: In den vergangenen Jahrzehnten wurden Ärzte zunehmend in einer Weise sozialisiert, die es ihnen schwer macht, das durchzuführen, was ich das liebevolle Unterlassen am Lebensende nenne.
Dazu gehört manchmal auch Mut, dazu müssen innere Schranken überwunden werden. Denn wenn der Arzt handeln kann, fühlt er sich wohler, er tut ja etwas. Inzwischen regen
sich allerdings zunehmend Zweifel, ob das alles so richtig ist. Denn beim Sterben ist es wie bei der Geburt: In den meisten Fällen läuft es am besten ab, wenn es nicht von außen gestört wird.
ZEIT: Sicher haben Ärzte immer wieder auch die Sorge vor rechtlichen Konsequenzen, wenn sie nicht handeln.
Borasio: Maßnahmen, die für den Patienten in seiner aktuellen Situation wirkungslos oder sogar schädlich wären, wie die oben erwähnten, dürfen vom Arzt nicht angeordnet werden. Das ist keine passive Sterbehilfe, sondern nur gute Medizin. Der Bundesgerichtshof hat 2010 im Fall Putz im Übrigen eindeutig festgestellt, dass das Unterlassen oder Beenden einer begonnenen Behandlung gerechtfertigt ist, wenn dies dem Patientenwillen entspricht.
Pallativmedizin ist mehr als Schmerztherapie
ZEIT: Haben viele Ärzte womöglich selbst Angst vor dem Sterben?
Borasio: Natürlich, auch wenn das vielfach unbewusste Ängste sind. Ein guter Arzt muss sich mit der eigenen Endlichkeit auseinandergesetzt haben. Dazu haben wir ein Seminar »Leben im Angesicht des Todes« angeboten: Studenten sind zu Sterbenden nach Hause gegangen, nur mit der Aufgabe, diese Situation auf sich wirken zu lassen. Ein Student schrieb uns danach: »Das war zweifellos die sinnvollste Erfahrung in meinem Studium«.
ZEIT: Inzwischen gehört die Palliativmedizin als Pflichtfach zum Medizinstudium. Aber sie hat dennoch häufig das Image der Händchenhalter oder einfach der Schmerzlinderer.
Borasio: Palliativmedizin mit Schmerztherapie gleichzusetzen greift viel zu kurz. Die Schmerzbehandlung stellt nur 16% der Palliativbetreuung dar. Es geht vielmehr darum, wie die Palliativ-Pionierin Cicely Saunders gesagt hat, im umfassenden Sinn einen Raum zu schaffen, um jedem Menschen die Möglichkeit zu geben, seinen eigenen Tod zu sterben. Dazu versuchen wir, Hindernisse zu beseitigen, seien sie physischer, psychosozialer oder spiritueller Natur, und Ressourcen zu aktivieren. Palliativmedizin ist eine Fachdisziplin mit wissenschaftlich gesichertem Know-how und liefert hochprofessionelle Leistungen. Allerdings sollten wir uns zurückhalten mit der Vorstellung vom »guten Tod«, die wir Patienten vorgeben. Das wäre eine Selbstüberhöhung der Therapeuten.
ZEIT: Die meisten Menschen wünschen sich, zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung für immer die Augen zu schließen. Das gelingt aber nur etwa jedem Vierten. Kann die Palliativmedizin dazu beitragen, dass es mehr werden?
Borasio: Ja, das kann sie sogar sehr gut – wobei aber die Frage, wo ein Mensch stirbt, nicht im Vordergrund steht. Wichtig ist, wo und wie die Menschen leben, bevor sie sterben. Es ist nicht besonders schwierig, die letzten 24 Stunden im Leben eines Menschen friedlich und würdig zu gestalten. Schwierig und aufwendig ist, die letzten 24 Monate eines Lebens lebenswert und beschwerdefrei zu gestalten. Das ist der Maßstab, und damit ist klar, dass es um alle Ärzte geht, alle Pflegenden, alle im Gesundheitswesen Tätigen.
ZEIT: Lässt sich dieser Zeitpunkt denn genau bestimmen?
Borasio: Man kann es jedenfalls besser, als es heute häufig geschieht. Ein Beispiel: Parkinson-Patienten, die Schluckbeschwerden bekommen, haben eine Lebenserwartung von 2 Jahren. Damit sind sie ohne Zweifel Palliativpatienten! Hilfreich ist auch die sogenannte Überraschungsfrage. Man fragt dabei die Ärzte nicht: Wie lange wird dieser Patient noch leben?, sondern: Wären Sie überrascht, wenn dieser Patient innerhalb der nächsten zwei Jahre verstirbt? Das ergibt realitätsnahe Zahlen, die sich hinterher als richtig erweisen.
Wir müssen einfach mehr
Forschung betreiben, was die Prognostik betrifft, denn wie viel Zeit ihnen noch bleibt, das wollen die meisten Patienten eben wissen.
ZEIT: Inzwischen gibt es ja einen Anspruch auf Hilfe durch die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung, die SAPV. Gibt es Ihrer Meinung nach genug dieser Beratungsteams?
Borasio: Noch nicht. Es gibt einerseits einen Anspruch auf diese Versorgung, andererseits aber mauern die Krankenkassen und stellen Teams vor überhöhte Anforderungen, was die
Dokumentation der Fälle betrifft. Palliativteams, die gute Arbeit leisten, fühlen sich dadurch geknebelt und haben weniger Zeit für den Patienten und seine Angehörigen.
ZEIT: Werden Patientenverfügungen seit der gesetzlichen Änderung 2009 besser beachtet?
Borasio: Ja, das Gesetz hat für mehr Rechtssicherheit gesorgt. Inzwischen wird allgemein anerkannt, dass man an einer Patientenverfügung nicht vorbeikommt.
ZEIT: Sie raten, ein Hausarzt solle die Patientenverfügung mitunterschreiben. Das ist meist nicht der Fall. Warum ist das wichtig?
Borasio: Weil es beweist, dass ein Dialog zwischen Hausarzt und Patient stattgefunden hat. Außerdem wird durch die Unterschrift des Arztes bestätigt, dass der Patient einwilligungsfähig war, und damit sind letzte Zweifel an der Wirksamkeit der Patientenverfügung beseitigt.
ZEIT: Professor Borasio, Ihr Fach hat ja häufig noch die Aura der »Todesengel«. Was haben Sie dem entgegenzuhalten?
Borasio: Palliativmedizin schafft Raum für die individuelle Entwicklung am Lebensende. Wie überraschend das wirken kann, hat eben eine bahnbrechende Studie belegt, die 2010 im New England Journal of Medicine erschien. Verglichen wurden zwei Gruppen von Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs. Die erste bekam die übliche Therapie – Chemotherapie, Bestrahlung und so weiter. Bei der zweiten Gruppe wurde frühzeitig die Palliativmedizin in die Betreuung integriert. Das Ergebnis: Die Patienten der Gruppe mit Palliativbetreuung hatten eine bessere Lebensqualität, zeigten seltener depressive Symptome und bekamen weniger aggressive Therapien am Lebensende. Und nun die große Überraschung: Die Patienten der Palliativgruppe lebten nicht nur besser, sondern fast drei Monate länger als die in der Kontrollgruppe. Das würde in der Pharmabranche als wegweisender Therapieerfolg gelten. Dieses Ergebnis sollte allen Akteuren im Gesundheitswesen zu denken geben.
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wissen
Stimmt’s? Der Film des Lebens
Sehen Menschen unmittelbar vor ihrem Tod noch einmal ihr bisheriges Leben im Zeitraffer vorüberziehen? Klaus Schanne, Kirchheim
Was Menschen unmittelbar vor dem Tod erleben, darüber gibt es naturgemäß keine Berichte. Allerdings erzählt etwa ein Drittel der Menschen, die dem Tod sozusagen in letzter Minute
von der Schippe gesprungen sind, von so genannten Nahtod-Erfahrungen. Und dabei gibt es einige Elemente, die immer wieder auftauchen: der Blick durch einen Tunnel, an dessen Ende
ein helles Licht leuchtet; das Gefühl, den eigenen Körper zu verlassen und von außen zu betrachten; und eben auch der »Film des Lebens«, der im Zeitraffer vor dem inneren Auge abläuft.
In jüngster Zeit haben Forscher begonnen, solche Nahtod-Erlebnisse systematisch zu analysieren. Der Psychiater Michael Schröter-Kunhardt etwa hat 230 Fälle untersucht, darunter auch
viele, in denen die Menschen einen »Lebensfilm« sahen – der übrigens mal vorwärts abläuft und mal rückwärts. Der Neurologe Detlef Linke glaubt sogar, die Quelle für die Erinnerungsflut gefunden zu haben:
Gewisse Rezeptoren im Hirn reagieren auf Sauerstoffmangel verstärkt und werfen das Retrokino an. Christoph Drösser
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Umgang mit dem Tod Der Tod
kehrt ins Leben zurück
Lange haben wir den Tod
verdrängt. Nun kehrt er ins Leben zurück. Ein Essay
Ein Wandel hat die Republik
erfasst: Der Tod kehrt ins Leben zurück. Die Gesellschaft formuliert bisher
ungewohnte Aussagen über Leid, Schmerz und Trauer und entwirft neue Bilder und
Begriffe vom Leben und Sterben. Allgemeinverbindliche Regelungen gibt es nicht
mehr, Weltanschauungen spielen dabei kaum noch eine Rolle. An diesem
gewandelten Umgang mit dem Skandal der Sterblichkeit kann man ein verändertes
Menschenbild ablesen: Der Mensch von heute lässt sich seinen Tod nicht mehr aus
der Hand nehmen. Kulturhistorisch betrachtet, ist in Deutschland eine kleine
Revolution im Gange.
Als äußeres Spiegelbild
soziokultureller Veränderungen in der deutschen Gesellschaft kann auf ideale
Weise der Hamburger Friedhof Ohlsdorf dienen. Er ist kein Friedhof im
klassischen Sinn, kein christlich umflorter Gottesacker. Er ist ein
Parkfriedhof, ein Naturpark mit Toten, der nun der Pluralisierung und
Partikularisierung der Gesellschaft Rechnung trägt. Da gibt es einen Bereich
für totgeborene Kinder, eine Rasenfläche für anonyme Beisetzungen, einen
urwaldartigen Ruheforst mit Urnengräbern um Stieleichen, Rotbuchen und
Waldkiefern. Da gibt es das erste Gemeinschaftsgrabfeld von Aids-Toten genauso
wie den von einem privaten Verein betriebenen »Garten der Frauen« im Geiste der
Frauenbewegung, in dem prominente und nicht prominente Damen ruhen und in dem
Muße, Poesie und die Ästhetik des Arrangements das Gefühl einer postmortalen
Heimat hervorrufen. Während Einzel- wie Familiengräber an Bedeutung verlieren
und klassische Begräbnisse den immer beliebter werdenden Feuerbestattungen
weichen, entstehen, wie der Hamburger Kulturwissenschaftler Norbert Fischer sie
nennt, »gruppenspezifische Miniaturlandschaften«: Begräbnisanlagen jener
sozialen Gemeinschaft, der sich der Tote zu Lebzeiten zugehörig fühlte. Das
können Grabanlagen von HSV- oder Schalke-04-Anhängern sein, von
Kirchengemeindemitgliedern und Kegelvereinen. Freundeskreise und Fans
bestimmter Bands sind im Tode vereint wie vorher im Clubhaus oder in der
Südkurve.
Familien sind zersplittert,
Lebensformen diversifiziert, Angehörige sind oft weit voneinander entfernt,
Singlehaushalte Normalität. Die Begräbniskultur ist daher auch nicht mehr das
letzte Hochamt einer bürgerlichen Zivilisation mit verbindlichem Regelsatz. In
ihr findet ein Leben in der Unverbindlichkeit von Projekten und im Patchwork
widersprüchlicher Lebensstile seinen Ausdruck, wobei es durchaus dem Zufall
geschuldet ist, in welchem sozialen Verbund jemand sich am Lebensende befindet.
Mehr und mehr fungiert der Friedhof auch nur noch als funktionaler
Bestattungsort. Trauer und Gedenken wandern entweder in den öffentlichen Raum,
wo sich, wie im Falle des Todes von Lady Diana oder Robert Enke, Emotionen
kollektiv entladen und spontan sozialromantische Gemeinschaften stiften. Oder
sie werden konserviert in der immateriellen Ewigkeit des WWW-Gedächtnisses, wo
man den Verstorbenen per »Digital-Memorial« auf virtuellen Friedhöfen
kommerzieller Portale »Internet-Gedenkstätten« errichtet.
Marterl oder Memorials für
Unfalltote an Straßen wachsen sich zu Erinnerungsorten aus. Die Kirche hat
nicht mehr den Alleinvertretungsanspruch auf Tod und Trauer, Seelsorge ist
nicht mehr das Kerngeschäft gestresster Priester. Die profane Gegenbewegung
wider die Einsamkeit und die Atomisierung hat sozialromantische Züge und
lautet: Zurück in die Natur, zur Zeremonie, zum Ritual. »Der Tod ist der letzte
existenzielle Bereich, in dem es zu einer gesellschaftlichen Befreiung gekommen
ist«, befindet der Kulturanthropologe Fischer in Analogie zur sexuellen
Revolution post 1968. Er muss das wissen: Seit 25 Jahren forscht er über
Begräbnis- und Trauerformen.
In mehreren Genres und
Formensprachen ist Alter und Vergänglichkeit mittlerweile auch im
Wahrnehmungsraum der Massenmedien angekommen – eine ganz neue Botschaft an die
werberelevante Zielgruppe bis 49. Eine sich dem Imperativ des unbedingten
Fortschritts ausliefernde Gesellschaft, die im Strudel des demografischen
Defizits zugleich Gefahr läuft, ihre Reproduktion zu verpassen, beginnt
allmählich, so scheint es, das Leben auch vom Tode her zu denken. In dieser
Enttabuisierung steckt eine große Chance zur Veränderung. Denn wer mit dem Tod
nicht umgehen kann, kann auch andere existenzielle Krisen nicht bewältigen.
Noch immer ist der Tod der blinde Fleck eines Lebens im Betriebssystem der allgemeinen Optimierung, noch immer bleibt er die größte narzisstische Kränkung des auf seine Autonomie pochenden Individuums. In keinem Rechtsgebiet ist eigenständig definiert, was genau der Tod ist. Die Wissenschaften sind sich uneinig, wann exakt der Mensch tot ist – nicht einmal Pathophysiologen vermögen festzuschreiben, was Sterben eigentlich ist. Nach Grundgesetz Artikel 2.2 hat jeder Mensch das Recht auf ein gutes Leben; das Recht auf einen guten Tod ist nirgendwo verbrieft. Jedes Nachdenken über einen solchen setzt deshalb bei einer zeitgemäßen Auslegung des Begriffs Menschenwürde und der intellektuellen Neubestimmung dessen an, was ein »würdevoller Tod« sei. Zwischen würdevollem Leben und würdevollem Sterben besteht freilich ein bedeutsamer Unterschied.
Wem früh im Leben der eigene
Tod bewusst ist, geht mit Sterben bewusster um
Die Betonung der Würde im
Diskurs über Sterben, Tod und Trauer deutet zweierlei an: dass der Wahn einer
totalen Kontrolle über das Leben mittlerweile als Illusion überführt ist – und
dass sich zunehmend mehr Menschen der Instrumentalisierung und Fremdbestimmung
durch eine religiöse Weltanschauung, die moderne Medizin und staatliche
Bürokratisierung entgegenstellen.
Im Rekurs auf den Kantschen
Imperativ hat sich weitgehend eine Ethik ohne Gott durchgesetzt. Ihre Maxime:
Begegne jedem Menschen so, wie man dir begegnen soll, wenn du in einer solchen
Situation bist. Vor fünfzehn Jahren hätten viele dem Satz, Wachkomapatienten
seien Lebende, nicht zugestimmt, bemerkt der Psychologische Psychotherapeut
Michael Wunder, Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung
Alsterdorf in Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Die Wahrnehmung
habe sich stark verändert, es scheint sich Grundlegendes gewandelt zu haben:
Der Respekt dem vergehenden und eingeschränkten Leben gegenüber sei gestiegen.
Die Palliativmediziner
definieren Sterbenlassen als letzten Akt eines menschenwürdigen Lebens, Ethiker
erklären Schmerzminderung zum Nukleus des Begriffs der Würde, Rechtsphilosophen
denken über die Legitimation einer Beihilfe zum Suizid in Ausnahmesituationen
nach. Die Grenzen zwischen passiver und indirekt aktiver Sterbehilfe
verschieben sich in dem Maße, in dem das Wissen über Sedativa, Narkotika und
Anxiolytika zunimmt, die Zahl stationärer Hospize in den Krankenhäusern wächst
und ambulante Palliativmedizin es Todkranken ermöglicht, von der Familie
umsorgt zu Hause zu sterben. Die Patientenautonomie, Ausweis des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts, wird als höchstes Gut der Selbstverfügung verstanden,
das Ärzte zunehmend respektieren. »Man nimmt den Menschen in seinem Wunsch, zu
sterben, heute sehr viel ernster, als man es noch vor ein paar Jahren getan
hat«, bemerkt dazu der Münchner Strafrechtsprofessor Ulrich Schroth.
Nach wie vor degradiert die
funktionale Zergliederung des Todes durch Professionalisierung den Menschen an
und nach seinem Ende zu etwas Unbrauchbarem – der Tote als Ware, das Tote als
Müll. Vor Kurzem noch, berichten Bestatter, Ärzte und Pfleger, seien Sterbende
systematisch in Abstellkammern der Krankenhäuser geschoben worden, ohne Ruhe,
ohne Beistand, ohne Reaktion auf Schmerzen und Ängste. Dem einsamen Tod in der
Kälte folgte die Verfrachtung in den Keller, dann die kommerzielle Entsorgung
im Bestattungswesen. Und wer den Tod des Angehörigen nicht finanzieren konnte
oder wollte, setzte und setzt womöglich auf die »Tiefstpreisgarantie« des
Discountbestatters »Sargdiscount«.
Seit zehn Jahren aber greifen
alternative Formen von Tod, Abschied und Erinnerung Raum, und alle Trends
zusammengenommen, lässt sich von einer neuen Ars Moriendi sprechen. Diese »Kunst
des guten Sterbens« – im späten Mittelalter auf das Himmelreich gerichtet,
heute aber völlig entchristlicht gedacht – wurde maßgeblich von der
Aids-Selbsthilfe-, der Schwulen- und der Hospizbewegung seit Ende der neunziger
Jahre beeinflusst und vorangetrieben. Aus diesem Geiste heraus ist 2007 auch
das »Lotsenhaus« unter dem Dach der Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz in
Hamburg-Altona gegründet worden, ein Bestattungs- und Beratungshaus in einer
ehemaligen Filiale der Dresdner Bank. Seine Räume stehen allen offen, vor allem
will man nicht vorgeben, was würdevoll zu sein hat, sondern dem entsprechen,
was der Einzelne als für sich würdevoll erkennt. Was kann daraus folgen? „Knockin’
on Heaven’s Door“ zur Totenfeier etwa, freie Trauerreden im Ruheforst, Trauerzüge
zum Friedwald, Gesänge, Luftballons, Flusszeremonien, Seebestattung oder die
Pressung der Asche zum Diamanten. Während im Raum Angehörige singen, lachen,
weinen, Filme zeigen, Anekdoten erzählen und den Toten anfassen, fahren
städtische Busse vorbei, verharren Passanten vor den Fenstern, beobachten
vorbeikommende Kindergartenkinder den Toten und die Trauer unbefangen. Der Tod
kehrt durch seine Sichtbarkeit ins Bewusstsein zurück. Die gezielte Transparenz
neutralisiert Ängste und führt im besten Fall zur Normalität – wer einen Toten
sieht, nimmt Anteil.
Das mag Vorhut, die Avantgarde
einer Entwicklung sein, die sich nicht überall wird durchsetzen können. In
jedem Fall aber ist der Begriff der Menschenwürde heute anders als noch vor
zehn Jahren gefasst: In seinem Mittelpunkt stehen das konkrete Individuum und
seine Emotionen. Der Zeitgenosse kreist nach wie vor um sich, aber in seiner
Ichbezogenheit nimmt er auch sorgenden Einfluss auf die Art und Weise seines
Endes.
Ein solcher Wertewandel hin zu
einer höheren Lebensqualität im Sterben ist vor allem das Resultat einer
erhöhten Sensibilität gegenüber der Selbstbestimmung und der Autonomie des
Einzelnen. Selbstbestimmung bezieht sich auf die Kompetenz einer Person, ihre
Handlungen als eigener Akteur zu initiieren. Autonomie bezieht sich auf die
grundsätzliche Zuschreibung des Menschen, als solcher selbstzweckhaft und
niemals Mittel zum Zweck zu sein. »Würde heißt heute, im Sterben nicht
instrumentalisiert zu werden«, meint der Bonner Philosophieprofessor Dieter
Sturma, Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den
Biowissenschaften. Er erklärt die Ideologisierung der letzten Fragen durch eine
christliche Weltanschauung für weitgehend erledigt. Die Konstanten katholischer
Vorschriften erodieren: Mit dem »ewigen Leben« lässt sich kaum noch jemand
beruhigen, der Glaube an Wunder und Auferstehung weicht der Bejahung des
alltäglichen Lebens, das Versprechen eines transzendenten Paradieses entfällt.
Die Vorstellung des Menschen von der Ebenbildlichkeit Gottes hat sich definitiv
verändert. »Was einem Patienten von kirchlicher Seite unter dem Stichwort
Akzeptanz des Leidens zugemutet wurde«, resümiert Sturma seine Studien, »wollen
wir heute zu Recht nicht mehr hören.«
Was folgt daraus? Womöglich die
Erkenntnis, dass der Kampf gegen den Tod für jeden Menschen von vornherein
verloren ist. Das klingt nach einer Banalität, ist es aber nicht. Sich früh im
Leben den eigenen Tod bewusst zu machen könnte zu einem bewussten Umgang mit
dem Sterben führen. Will heißen: Sich rechtzeitig in die eigene Endlichkeit
einzuüben fördert die Einsicht, dass die Autonomie am Ende doch begrenzt und
die Abhängigkeit von anderen groß sein könnte.
Ist aus alldem zu schließen, dass dem Leben an sich heute ein anderer Wert beigemessen wird als vor zehn, fünfzehn Jahren? Eindeutig ja. So lässt sich das Ergebnis der gerade beendeten Arbeit des Heidelberger Marsilius-Kollegs zusammenfassen, eines interdisziplinären Forschungsprojektes innerhalb der Exzellenz-Initiative der dortigen Universität. Vertreter aus Palliativmedizin, Gerontologie, Germanistik, Geschichtswissenschaft und Recht befassten sich unter der Leitung des Medizinhistorikers und Mediziners Wolfgang Eckart und des Rechtsphilosophen und Medizinrechtlers Michael Anderheiden mit dem Thema »Menschenwürde am Lebensende«.
Die Medizin lässt sterben, wo
sie Leben nur künstlich verlängert.
»Zum ersten Mal wird jetzt in
Deutschland das Sterben als eine Phase des Lebens wahrgenommen«, sagt
Anderheiden und verweist auf mögliche Ursachen für die bislang organisierte
Verdrängung des Todes: Zum einen habe Deutschland während der NS-Zeit zu viele
Tote erlebt, zum anderen sei die 68er-Bewegung eine der Lebensbejahung gewesen.
Hedonismus und Frohsinn der achtziger sowie Schönheits- und Jugendkult der
neunziger Jahre hätten den Tod aus kulturellen Gründen weiter tabuisiert. Der
Paradigmenwechsel habe erst eingesetzt, als im Einzugsbereich der hoffähig
werdenden Hospizbewegung die Selbstwahrnehmung einer immer älter werdenden
Bevölkerung zum Wunsch nach größerer Selbstbestimmtheit führte.
Analog dazu wurde die
Palliativmedizin stets wirkungsvoller. Sie ermöglicht heute ein nahezu
schmerzfreies Sterben, parallel dazu brach die Zurückhaltung deutscher Ärzte
peu à peu auf: Die Angst vor Verstößen gegen das restriktive deutsche
Betäubungsmittelgesetz und damit die Furcht, jemanden versehentlich zum Sterben
zu sedieren, scheint zu weichen. Vor allem im veränderten Selbstverständnis der
Ärzte ist nach Auffassung der Kollegmitglieder ein kolossaler Wandel abzulesen.
Die Mediziner, fasst Eckart zusammen, begriffen sich nicht mehr als Halbgötter
in Weiß, die es als persönliche und berufliche Niederlage auffassen, wenn sie
jemanden sterben lassen müssen. »Zu den ärztlichen Aufgaben gehört es genauso,
Menschen beim Sterben zu begleiten und den Zeitpunkt zu erfassen, an dem aus
der kurativen eine palliative Therapie wird.« Es gehe nicht mehr darum, dass
unbedingt geheilt, sondern dass mit einer Krankheit oder Behinderung gut gelebt
werde. »Wir können heute besser sterben lassen, ohne zu töten.«
Die Medizin lässt los. Sie
lässt sterben, wo sie Leben nur künstlich verlängert. Sie lindert Schmerzen
tödlicher Erkrankungen, ohne das Leben aktiv zu verkürzen. Diese Hilfe zum
Sterben als Grundgedanken einer zeitgemäßen Ars Moriendi zu begreifen hieße, menschenwürdiges
Sterben als würdevolles Leben zu verstehen. Im Zentrum eines gewandelten
Verständnisses der Menschenwürde am Lebensende stehen das Wohlergehen des
Einzelnen und die normative Frage: Wie soll nicht gestorben werden? In die
Tiefenschicht des Bewusstseins sickert beständig tiefer ein, dass zur
Menschenwürde körperliche, psychische und auch soziale Aspekte gehören und dass
beim Sterben eines Menschen Pfleger und Palliativmediziner mindestens so
wichtig sind wie der verehrte Chefarzt.
Ein Recht auf einen guten Tod innerhalb der Kunst des guten Sterbens ist weder juristisch einklagbar noch moralisch verbindlich, aber es ist zu einem konventionellen Anspruch des Zeitgenossen an sich und seine Umgebung geworden. Womöglich ergibt sich so ein Bild vom Menschen, der nicht stark und effektiv zu sein hat. Der im Alter weder rüstig noch fidel sein muss, der weiß, wer ihm wodurch Atemnot und Todesangst lindern kann und darf, um die letzte Phase des Lebens als Leben wahrnehmen, wertschätzen und gestalten zu können. Heute lässt sich unbestreitbar sagen: Der Tod wird ins Leben zurückgeholt, nicht nur jetzt im November.
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