Kleine +/o. große Arzneimittel

http://www.homeoint.org/articles/reis/latrodectus.htm Stefan Reis: Kleine und große Arzneimittel

 

Vergleich: Siehe: Mitteln

 

Die Einstufung der homöopathischen Arzneien in „große" und „kleine" Mittel. Dabei meint „groß", daß das entsprechende Mittel gut geprüft und häufig eingesetzt wurde - somit viele klinische Bestätigungen erfahren hat. Aus diesen Gründen erhält es dann den Status eines sogenannten Polychrests. Die „kleinen" Arzneimittel dagegen wurden bislang entweder insgesamt nur selten verordnet oder nur bei eng umrissenen Symptombildern angegeben, zum Teil auch bei gewissen klinischen Indikationen, bei denen sie in der Regel aufgrund der Lokalsymptomatik oder eines einzelnen Leitsymptoms verordnet werden. Soweit sie überhaupt in nennenswerter Häufigkeit gebraucht werden, handelt es sich meist um akute Erkrankungen oder akute Exazerbationen chronischer Störungen.

Oft werden diese Kategorien auch als „wichtig" und „weniger wichtig" mißverstanden. Man glaubt, daß „kleine" Mittel seltener angezeigt und weniger wirksam seien als ihre „großen Brüder". Dieses Vorurteil gilt es zu revidieren - sonst wird man kaum einmal ein bislang unterschätztes oder ein neu in die Materia medica eingeführtes Arzneimittel

seinem wahren Wirkungspotential gemäß einsetzen können!

Ob ein Arzneimittel als „groß" oder „klein" eingestuft wird, ist vor allem abhängig von seinem Bekanntheitsgrad. Dieser wiederum steigt mit einer gut durchgeführten und dokumentierten Arzneimittelprüfung, sowie mit möglichst zahlreichen und an exponierter Stelle veröffentlichten Kasuistiken. Er beruht also nicht zuletzt darauf, ob diese Informationen den praktizierenden Homöopathen zugänglich sind.

Diesbezüglich gute Voraussetzungen haben die Mittel, welche in die Hauptwerke der homöopathischen Materia medica Eingang gefunden haben (T.F. Allen: Encyclopedia
of pure Materia Medica/C. Hering: Guiding Symptoms of our Materia Medica/mit Einschränkung J.H. Clarkes: Dictionary of practical Materia Medica/R. Hughes und J.P. Dake herausgegebene Cyclopaedia of Drug Pathogenesy).

Daß ein Arzneimittel in einer umfangreichen und weit verbreiteten Arzneimittellehre verzeichnet ist, garantiert jedoch nicht seinen angemessenen Einsatz in der Praxis.

Ich will zwar nicht behaupten, daß es hinsichtlich der Indikationshäufigkeit keinen Unterschied zum Beispiel zwischen Blatta und Sulphur gäbe. Es ist nur so, daß neben der,

man könnte sagen: dem Mittel innewohnenden, mehr oder minder umfangreichen Heilkraft auch - fast schicksalhaft - der homöopathische Zeitgeist und die Verfügbarkeit der Informationen die Einsatzhäufigkeit und damit wiederum das Erkennen der Heilkraft eines Arzneimittels mitbestimmen.

Wie kommt es nun, daß zum Beispiel Nat-c. der Ruf eines eher „kleinen" Mittels anhaftet? Obwohl es umfangreich geprüft worden ist, sind praktische Erfahrungen, oder, besser gesagt, Kasuistiken, welche die Bewertung der Prüfungssymptome ermöglichen würden, vergleichsweise spärlich veröffentlicht worden. Dies führt dazu, daß Nat-c. in den Arzneimittellehren weniger eingehend, zuweilen auch gar nicht, beschrieben wird, dadurch dem Lernenden kaum einmal als studierenswert unterkommt und so, selbst in geeigneten Fällen, mangels Vertrautheit nicht berücksichtigt wird.

Bei Samuel Hahnemann umfaßt die Pathogenese von Nat-c. 1082 Symptome, viel ist. Zusammen mit den bekannten klinischen Symptomen ergibt sich ein interessantes Bild.

Betrachtet man nun allein die psychischen Symptome, läßt sich leicht eine auffallende Ähnlichkeit mit einem anderen, wesentlich bekannteren Mittel konstatieren:

- „Abneigung gegen die Menschheit und gegen die Gesellschaft; Entfremdung von Einzelnen und von der Gesellschaft, sogar von ihrem Ehemann und ihrer Familie."

- „Ruhelosigkeit, mit Anfällen von Ängstlichkeit, vor allem während eines Gewitters; < Musik."

- „Ängstlichkeit beim Gewitter minder als sonst. (Heilwirkung.)"

- „Menschenscheu und furchtsam." - „Er flieht die Menschen."

Wer die Grundzüge der „wichtigsten" Mittel der homöopathischen Materia medica im Kopf hat, wird gleich die Ähnlichkeit zu Sepia erkannt haben. Tatsächlich wird Sepia

bei der geschilderten Konstellation oft blindlings verordnet, obwohl doch -das zeigt im übrigen auch das Repertorium- zumindest Nat-c. vor der Hand ebenfalls als sehr ähnlich erscheinen muß.

Auch andere Symptome sprechen für beide Mittel. So deckt Nat-c. wie Sepia das Abwärtsdrängen im Uterus, die Abneigung gegen Milch beziehungsweise Diarrhoe durch

Milch, etc. Natürlich gibt es auch unterscheidende Merkmale und Symptome, die das eine Mittel aufweist, das andere aber nicht. Dennoch: die Verordnung aufgrund der

genannten psychischen Symptome führt - sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Zeitnot - beinahe stets zu Sepia, selten oder nie zu Nat-c. Man darf jedoch vermuten, daß so

mancher vermeintliche Sepia-Fall auch mit Nat-c. zur Genesung kommen, sogar schneller geheilt werden könnte.

Das genannte Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit eines eingehenden Studiums der homöopathischen Materia medica und die Wichtigkeit einer Verabschiedung von „Lieblingsmitteln", die schon H. eine Warnung wert waren.

Um nicht mißverstanden zu werden: Auch ich verordne Sepia wesentlich häufiger als Nat-c., vielleicht sogar häufiger als jedes andere Mittel. Ein Vergleich zweier Arzneimittel,

wie er oben gemacht wurde, ist ausserdem nur mit Einschränkung aussagekräftig. So hat die Praxis gezeigt, daß die aufgelistete Symptomenkombination in Sepia-Fällen sehr

oft zugegen ist, während es sein mag, daß sie bei Nat-c.-Fällen seltener auftritt. Mancher Praktiker wird Nat-c. ohnehin nicht für ein „kleines" Mittel halten.

Aber: Die individuelle praktische Erfahrung trägt dazu bei, daß das Mittel X dem einen selten, dem anderen häufiger angezeigt zu sein scheint.

Was aber soll man davon halten, wenn zum Beispiel Medorrhinum von einem Homöopathen als eines der wichtigsten homöopathischen Arzneimittel gepriesen wird, bei einem anderen dagegen hinsichtlich der Verordnungsfrequenz nur unter „ferner liefen" rangiert? Glaubt jemand allen Ernstes, daß der eine Kollege mehr Med.-Fälle in die Praxis

bekomme als der andere? Ein Thema, das aber später einmal an anderer Stelle diskutiert werden muß! Hier bleibt nur festzuhalten, daß bei zu einseitiger Beschäftigung mit

der Materia medica an die weniger bekannten Arzneimittel zu selten gedacht wird und so manches Mittel „einmal klein - immer klein" bleibt.

Klein bleibt ein Arzneimittel noch aus anderen Gründen:

Die Symptomatik des Mittels ist nur ungenügend erforscht. Es ist nicht oder nur fragmentarisch am Gesunden geprüft worden, und seine Anwendung leitet sich lediglich

von diesen wenigen Prüfungsergebnissen ab, beziehungsweise von volksmedizinischen Verwendungszwecken, durch die es oft überhaupt erst Homöopathen auffällt.

Viele Arzneimittel sind unter besonderer Beachtung einer schon bekannten Indikation geprüft worden und die Ergebnisse wurden vor allem diesem Blickwinkel entsprechend ausgewertet, so daß andere Symptome unter den Tisch fielen. Entsprechende Veröffentlichungen, bei denen es sich oft nicht einmal um Arzneimittelprüfungen, sondern bloße Therapiestudien handelt, vertiefen in der Folge den Eindruck, es mit einem spezifischen Arzneimittel zu tun zu haben. Von einer solchen Einstufung besonders betroffen sind

die Arzneimittel, die von der sogenannten naturwissenschaftlich-kritischen Richtung der Homöopathie in die Materia medica eingeführt wurden. Als Beispiel sei nur Galph.

genannt, dessen klinisch belegte Wirksamkeit bei der Pollinosis an mögliche weitere Anwendungsgebiete nicht mehr denken zu lassen scheint.

Aber auch in der genuinen Homöopathie gibt es die „kleinen" Mittel. Meist sind es die, von denen nur ein, vielleicht zwei Leitsymptome (oder Keynotes) bekannt sind.

Sind diese Leitsymptome zugegen, darf man das Mittel mit einigem Zutrauen verordnen und Heilung erwarten. So ist Abies nigra angezeigt bei einem Gefühl wie von einem unverdauten hartgekochten Ei im Magen. Dabei muß der Umstand berücksichtigt werden, daß Abies-n. an lediglich vier Personen geprüft wurde, von denen drei zudem nur

die Tinktur einnahmen. In Allen Encyclopedia sind kaum 50 Symptome verzeichnet. Es kann sicher davon ausgegangen werden, daß eine Nachprüfung zahlreiche weitere

Symptome zu Tage fördern würde.

Ein anderes Beispiel: Wenn der Kranke ständig an den roten, entzündeten Stellen, zum Beispiel an den Lippen oder der Nase, zupfen muß, obwohl der Schmerz dadurch um

so unerträglicher wird, denkt man sogleich an Arum-t. Derartige Keynotes kennt man freilich auch von den Polychresten. Eine Angina, die auf der rechten Halsseite beginnt

und auf die linke überwechselt, wobei der Halsschmerz durch warme Getränke besser wird, erfordert Lycopodium. Der Unterschied zwischen den „kleinen" und „großen"

Mittel ist aber: Während wir an das Polychrest auch dann denken, wenn die Keynotes nicht alle vorhanden sind, fällt uns ein Mittel wie Rumx. bei einem Husten bestimmt

nicht ein, wenn er nicht durch Entkleiden verschlimmert wird.

Es sei an dieser Stelle ausnahmsweise eine Hypothese gestattet:

Jeder Stoff bringt bei einer „lege artis“ durchgeführten homöopathischen Arzneimittelprüfung Symptome hervor. Diese erfahren zwar eine gewisse individuelle Färbung

durch die Prüfer, aber es müssen doch Symptome sein, die dem Mittel quasi „innewohnen" und durch die Prüfung nur zutage gefördert werden. Im Grunde stehen somit die potentiellen Symptome schon zuvor fest. Je nachdem, ob die Arzneimittelprüfung an Personen ausreichender Anzahl, verschiedenen Alters und Geschlechts, mit unterschiedlichen Potenzen, etc. geschieht, besteht die Möglichkeit, möglichst viele -aber wohl nie alle!- der dem Mittel inhärenten Symptome hervorzulocken. Jede Nachprüfung wird, neben den schon bekannten, noch nie beobachtete Symptome verzeichnen.

Letztlich entscheidend für den Bekanntheitsgrad eines Mittels - und nur darauf basiert die fehlleitende Einteilung in „große" und „kleine" Mittel - ist die Frage, ob es in der Anfangszeit der Homöopathie bis zum Abschluß der Kompilationen T.F. Allens und C. Herings geprüft und in nennenswert hoher Zahl verordnet wurde.

Nur dann ist gewährleistet, daß ausreichend Informationen über die entsprechende Arznei verfügbar sind. Nicht zuletzt ist der Publikationstermin einer Arzneimittelprüfung auch dafür verantwortlich, ob das Mittel in die Repertorien aufgenommen wurde oder nicht. In jüngerer Zeit eingeführten Mitteln dagegen haftet so etwas wie der Fluch der späten Geburt an.

[Dr. Sunirmal Sarkar]

Kleines Mittel, großes Symptom

Wenn wir uns die kleineren, spezielleren Mittel ansehen, stellen wir fest, dass sogar ein kleines Mittel ein großes Symptom hat und dass dieses Symptom das stärkste seiner Art in der Materia Medica ist.

[Massimo Mangliavori]

Die „ kleinen Mittel“

Rainer Ginolas: Dr. Massimo Mangialavori, was verstehen Sie unter dem Begrifff „kleine Mittel?“

Dr. M.M.: Ich mag den Begriff „kleine Mittel“ nicht sehr, ich denke, er ist nicht korrekt. Ich hege die Ansicht, daß in unseren Repertorien und Arzneimittellehren

eine Anzahl Mittel präsentiert werden, die wir besser kennen als andere. Einige kennen wir wenig, einige zu wenig, andere hingegen sind gut bekannt, werden aber nicht mehr genutzt. Und wieder andere sind gut bekannt, wurden aber nie nach ihren tatsächlichen Möglichkeiten genutzt.

Wenige von diesen Arzneien, eigentlich sehr wenige, haben mit der Zeit aus verschiedenen Gründen den Teil der Mittel übernommen, die zu häufig und auch unkorrekt angewendet werden - die Polychreste.

Von diesen meinen wir, vielleicht genug zu wissen und haben eine Vielfalt klinischer Informationen; und trotzdem, diese Mittel werden in einer Art und Weise verabreicht, die sehr vage und nicht akkurat ist.

 

Frage: Der Begriff „kleine Mittel“ heißt also nicht etwa, daß wir über ein Gruppe von Mitteln reden, die klein in ihrer Wirkung sind?

Dr. M.M.: In der Tat glaube ich das nicht. Ich denke, es gibt viele Gründe, die einige Kollegen im Lauf der Zeit dazu geführt haben, eine derartige Hypothese zu erstellen. Vor allem hat sich seit dem Zeitalter der Aufklärung ein großer Teil des medizinischen Denkens weiter und weiter abgekehrt, hin zu einem „reduzierten Modell“. Viele Homöopathen haben sich dieser Gedankenrichtung angepaßt und gelangten so zu einer derzeit stark reduzierten und gefilterten Anzahl an Arzneimitteln.

Es ist ohne Zweifel offensichtlich einfacher, Hypothesen aufzustellen, die darauf abzielen, zu zeigen, warum eine bestimmte Therapie nicht wirkt, als einzugestehen, das das Verschreiben eines bestimmten Mittels vielleicht nicht das Bestmögliche war. Außerdem sind wir davon ab, die Homöopathie wie früher zu praktizieren, als nur wenige Mittel gebräuchlich waren und nur ein begrenztes Repertorium zur Verfügung stand. Das Repertorium wurde mittlerweise durch ständige Nutzung und Anwendung erweitert.

Das erlaubt den Homöopathen, weitere Möglichkeiten auf der Basis der beobachteten Symptome zu nutzen, anstatt sich nur auf die eigene Erfahrung zu beschränken.

Eine andere Begrenzung lag, vielleicht nicht ganz bewußt, in der geringen Anzahl von Arzneimitteln, die sich in den meisten Fällen, in der Apotheke der Homöopathen befanden.

Ich glaube, daß auch das dazu beigetragen haben könnte, das man sich auf einen kleinen Teil der Mittel beschränkte, insbesondere bei den Verschreibungen in akuten Fällen.

Diese letzte Beobachtung halte ich für besonders wichtig bei der Bewertung des häufigen Gebrauchs einiger Mittel, die in akuten Fällen verschrieben werden. In der Tat hat auch das Übermaß der repertorialen Symptome dazu beigetragen, die Polychreste mißzuverstehen, wie es auch dazu beigetragen hat, die Mittel, deren Symptome im Verhältnis zu den weniger bekannten Mitteln gut vertreten sind, über zu bewerten.

 

Frage: Dann würde der Begriff „kleine Mittel“ auch nicht heißen, das die Wirkungsweise eher lokal begrenzt ist?

Dr. M.M.: Auch dieses glaube ich nicht. Zumindest entspricht das nicht meiner Erfahrung. Seit 15 Jahren arbeite ich so, als ob alle Mittel gleich wichtig und effizient sind. Und ich glaube, daß der einzige Unterschied darin besteht, daß einige Mittel mehr oder weniger bekannt sind und in der Praxis mehr oder weniger Anwendung finden. Zu Anfang meiner homöopathischen Praxis habe ich viele Kollegen und anerkannte Lehrer gehört, die genau das behaupten, aber ich muß Dir gestehen, daß mich das nie überzeugt hat. Es erschien mir immer als Widerspruch, daß auf der einen Seite die umfangreiche Arbeit steht, die Suche nach den Anwendungsmöglichkeiten der Mittel(= Arzneimittelprüfung)und auf der anderen Seite dagegen das Einschränken der Möglichkeiten auf wenige Substanzen. Für mein Dafürhalten ist es jedenfalls tröstlich, daß bei einigen interessanten Verläufen die sogenannten „Kleinen Mittel“ in eher schweren Fällen verschrieben wurden, wohingegen nach meiner Ansicht, und der anderer Kollegen, ein Polychrest weniger gute Resultate erzielt hätte. Meine Erfahrungen und Erkenntnisse waren mir sehr hilfreich und haben mich dahin gebracht, eine Methode des Studiums homöopathischer Mittel zu entwickeln, die es mir erlaubt, bei der Verordnung präziser sein zu können. Ich arbeite immer ausgehend von der Voraussetzung, daß grundsätzlich jedes Mittel verschrieben werden kann, ohne mich von Anfang an darauf zu beschränken, nur wenige Substanzen nutzen zu können.

Ich forsche noch weiter in diese Richtung und denke, daß ich noch einen langen Weg vor mir habe. Doch ich bin zufrieden mit den Ergebnissen, die ich erziele. Auch bestärkt es mich darin, weiter zu forschen und zu beobachten, daß viele Kollegen, die einigen meiner Ansichten folgen, sehr ermutigende Ergebnisse hervorbringen.

 

Frage: Dann bedeutet der Begriff „ kleine Mittel“ demnach eigentlich „nicht gut bekannte Mittel?“

Dr. M.M.: Genau! Das Problem ist, nach welcher Strategie man eigentlich vorgehen soll, wenn man im praktischen klinischen Alltag zu verordnen hat. Ausgehend von der Prämisse, daß tatsächlich alle Mittel effizient sind, müssen wir eine angemessene Forschungsmethode finden, ein Modell, das uns erlaubt, die Forschungsergebnisse geeignet auszuwerten. Ohne Zweifel ist die weitere Forschung sehr wichtig und auch hier haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

Ich meine, daß auch der beste praktische Versuch nicht die einzige Möglichkeit ist, gute Informationen über die Effizienz einer Sache zu erhalten. So habe ich in den letzten Jahren versucht, Hypothesen zu erstellen, die mir erlauben, Mittel aufgrund derjenigen Informationen zu verschreiben, die mir bis dato vorliegen. Denn wenn man auf die Prüfungsergebnisse aller Substanzen, die zur Auswahl stehen, warten würde, müßte man sicher weit länger leben, als einem möglich ist.

Ich meine, es ist in keiner Wissenschaft verboten, Hypothesen aufzustellen. Das wichtigste dabei ist, diese anhand von Ergebnissen zu belegen. Deswegen habe ich mich auch immer bemüht, meine Fälle mit einem langen „follow-up“ zu versehen. Ich kann, denke ich, heute sagen, daß einige meiner Fälle meine Hypothesen stützen, weswegen ich in diese Richtung weiterarbeite.

Zur Zeit habe ich mehr als 1000 Fälle gesammelt, die mit den Worten der Patienten selbst dokumentiert sind. Alle diese Fälle weisen ein „follow-up“ von mindestens zwei Jahren auf und das Mittel, welches verwendet wurde, blieb bei jedem individuell immer das gleiche, ob bei chronischen oder bei akuten Erfordernissen. Praktisch habe ich in diesen Fällen nie das Mittel gewechselt, und die Ergebnisse waren sehr gut. Ein Großteil dieser Fälle wurde mit Hilfe der sogenannten „kleinen Mittel“ geheilt. Diese Fälle sind das Material, das ich in meinen Seminaren verwende, über die ich meine Bücher und Artikel schreibe, und woraus ich die Symptome abgrenze, die ich meinem Repertorium hinzufüge.

Selbstverständlich erziele ich nicht bei allen Patienten diese Ergebnisse. Das heißt, ich möchte nicht behaupten, daß unter allen Umständen und in jedem Fall nur ein einziges Mittel verschrieben werden kann. Ich glaube nicht, daß mein Modell vollkommen ist, und vor allem glaube ich nicht, daß ich alle Patienten, die zu mir kommen, heilen kann.

 

Frage: Also gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen einem kleinen Mittel und einem „Polychrest“?

Dr. M.M.: „Ich glaube nicht, daß es einen Unterschied gibt - allenfalls bezüglich des Namens. Ich glaube, daß das, was wir „Polychrest“ nennen, eine sehr allgemeine Art von Wirkung auf den Organismus darstellt. Wenn Sie diese Auffassung zum Beispiel vom Standpunkt der Zellpathologie aus betrachten, verfügt unser Organismus im Grunde nur über sehr wenige Reaktionssysteme. Und hauptsächlich deshalb sind wir der Ansicht, daß die sogenannten mentalen Symptome für die Erstellung einer Differentialdiagnose spezifischer sind als die somatischen Symptome. Die Ausdrucksmöglichkeiten dessen, was wir Geist nennen, sind sehr viel deutlicher gegliedert und viel komplexer als diejenigen Symptome einer Entzündung oder eines Abszesses. Ich bin der Ansicht, daß die Polychreste bis heute übermäßig angewendet worden sind.

Ich denke, daß eines der Hauptprobleme der Homöopathie darin liegt, daß wir nicht über ein gemeinsames Beobachtungssystem verfügen, und daß wir jede beliebige Form der Verschreibung eines homöopathischen Heilmittels „Homöopathie“ nennen.

Ich glaube nicht, daß die Dinge anders liegen. Für die Ausübung einer guten Homöopathie genügt es nicht, ein homöopathisches Heilmittel zu verschreiben. Ich finde, daß wir insbesondere heutzutage feststellen können, daß es viele unterschiedliche Arten gibt, Homöopathie zu praktizieren. Es gibt viele Arten, zu denken und die Ergebnisse zu analysieren, zu denen wir durch die Verschreibung eines homöopathischen Mittels kommen. Allem zugrunde liegt der homöopathische Gedanke mit dem Ähnlichkeitsgesetz, aber es ist sehr wichtig zu bestimmen, welche Ähnlichkeitsebene wir beim Erstellen einer Diagnose und beim Betrachten der erzielten Ergebnisse im Auge haben. Ich kann Dir ein Beispiel dafür anführen: Wenn Du bei einem Trauma Arnica verabreichst, erzielst Du fast immer ein gutes Ergebnis, und das ist dann eine gute Verordnung. Das bedeutet aber nicht, daß der Fall, den Du vor Dir hast, notwendigerweise ein gänzlicher Arnica-Fall ist: ein Fall nämlich, in dem Arnica außer auf das Trauma auch in komplexerer Weise auf tiefer liegende Symptome des Patienten wirken kann. Folglich ist Arnica in dieser Situation also eine gute Verordnung, wenn unser Beobachtungsmuster, sagen wir, vordergründig ist.

In der Vergangenheit gestaltete sich das Konzept von Gesundheit, die Erwartungen der Ärzte und die Hoffnungen der Patienten sehr viel anders als heute, wobei wir uns aber auch in der heutigen Zeit immer vergegenwärtigen sollten, was wir mit unserer homöopathischen Medizin erreichen können. Bei einer Epidemie beispielsweise sind wir bei fünfzig Patienten,  die wir am Tag untersuchen müssen, gezwungen, ein oberflächliches Muster anzuwenden; dies bedeutet jedoch nicht etwa, schlechte Arbeit zu leisten. Das Wichtigste ist, zu wissen, was man denn eigentlich tut. Ich kenne viele Kollegen der Veterinärmedizin, die sehr gute Arbeit leisten, und die im Grunde nichts besser machen könnten bei einem Stall mit hundert Kühen, um die sie sich zu kümmern haben.

Die Frage ist dann aber eine völlig andere, wenn wir Zeit haben, mit unserem Patienten mehr in die Tiefe zu arbeiten. Und die Frage ist dann eine andere, wenn unsere Verordnung nicht wirksam war und wir vor einer schweren und komplexen Differentialdiagnose stehen.

Ich denke, daß unsere Kollegen in der Vergangenheit hauptsächlich mit einem Konzept von Gesundheit gearbeitet haben, das weniger komplex als das heutige war. Ich glaube, daß das, was wir Polychrest nennen, in Wirklichkeit eine sehr allgemeine Art und Weise ist, auf ein bestimmtes Mißbefinden einzugehen, eine Art Strategie, die vielen Substanzen gemeinsam ist, und von denen das sogenannte Polychrest die bekannteste Substanz der Homöopathie darstellt, aber nicht notwendigerweise die wichtigste oder die wirkungsvollste.

Oft müssen wir dort, wo Arnica nicht wirkt, Heilmittel wie Bellis perennis, Calendula, Millefolium, Erigeron und viele andere in Betracht ziehen. Zu meinen, daß die Differentialdiagnose auf der bloßen Tatsache beruht, daß der Patient mehr oder weniger blutet, oder daß das betroffene Gewebe vorwiegend Nerven- oder Muskelgewebe ist - so einfach ist die Sache nicht.

Im Falle von Lachesis zum Beispiel sind die Symptome, die wir für dieses Arzneimittel als charakteristisch betrachten, oft Symptome, die für alle Schlangen charakteristisch sind. Und nur einige davon sind wirklich charakteristisch für Lachesis, während andere es für Elaps sind oder für Naja oder für Vipera oder Crotalus oder Zincum phosphoricum.

Fakt ist, dass Lachesis oft aufgrund eines Reduktionsmodells und unter einer nur oberflächlichen Beobachtung der mit diesem Mittel behandelten Patienten angewandt worden ist. Im Laufe der Zeit haben nun Symptome in das Repertorium und die Materia Medica mit Symptomen Eingang gefunden, die von anderen Schlangen oder anderen korrelierenden Heilmitteln herrühren. Dies sind die „klein“ gebliebenen Mittel, die sich nicht, wie es bei Lachesis der Fall war, zu sehr aufgebläht haben. Ich denke, daß dieser Vorgang für alle sogenannten Polychreste der gleiche ist.

 

Frage: Dann sind Sie der Ansicht, daß Polychreste häufig deshalb verordnet werden, weil man sich angewöhnt hat, zunächst an diese großen Mittel zu denken?

Dr. M.M.: Ja, genau das denke ich, aber nicht nur das. Ich bin der Meinung, daß viele unserer Theorien -und ich betone ausdrücklich, daß es nur Theorien sind, und als solche angesehen werden müssen-oft mit einer Art Doktrin vermengt werden. Vor allem ist es nicht einfach, zu wissen, was Hahnemann wirklich dachte. Auf jeden Fall war ein genialer Geist wie der seine bis ans Ende seiner Tage fähig, das, woran er glaubte, auch zu erproben. Aus diesem Grund meine ich, daß jeder Begründer einer Bewegung der Initiator einer Denkrichtung ist, die in den nachfolgenden Jahren von seinen Schülern weiterentwickelt werden muß.

Nach meinem Eindruck dienen die Theorien, die wir aufstellen, oft zur Rechtfertigung unserer Mißerfolge, wo es doch viel einfacher wäre, zuzugeben, daß wir über unsere Arzneimittel tatsächlich noch so viel zu lernen haben. Vielleicht ist an einem schlechten Behandlungsergebnis nicht der viele Kaffee schuld, den der Patient trinkt, sondern die ungenaue Verordnung.

 

Frage: Wenn wir ein gut bekanntes Mittel nehmen, wie zum Beispiel „Pulsatilla“, dann haben wir bestimmte Gemütssymptome, die man gut erkennen kann. Finden wir unter den „kleinen“ Mitteln ebenfalls Charaktereigenschaften, die uns dabei helfen können, das Mittel dem Patienten zuzuordnen?

Dr. M.M.: Ganz gewiß! Ich bin der Meinung, daß jede Substanz ihre spezifischen Charakteristika hat. Die Tatsache, daß ich gern die Arzneien in „Familien“ erforsche, bedeutet ganz und gar nicht, dass ich es für unwesentlich erachtete, jede Arznei in ihrer Besonderheit zu unterscheiden. Das Gegenteil ist der Fall.

Ich denke, daß eine Familie von Heilmitteln durch die innerhalb dieser Familie bestehenden Analogien gekennzeichnet ist, und daß sich dann jedes einzelne Heilmittel durch seine besonderen Eigenschaften innerhalb dieser Familie unterscheidet.

Im Falle des Beispiels von Pulsatilla glaube ich, daß es ein Gemeinplatz ist, daß nur Pulsatilla so einfach zum Weinen führt und mit dem Trost Besserung eintritt. Diese Symptome treffen ohne Zweifel zu, aber sind sie wirklich so spezifisch, daß man sie nur Pulsatilla zuordnen kann?

Ich glaube nicht, daß das so ist. Meiner Erfahrung nach sind oft Symptome, die wir als key-notes eines Heilmittels ansehen, auch anderen, ähnlichen Heilmitteln eigen, während unter anderen Umständen einige key-notes wirklich nur für ein einziges Heilmittel spezifisch sind. Oft halten wir key-notes eines Polychrests für einzigartige Symptome, die aber auch Symptome eines kleinen Mittels sind.

Auch Mimosa oder Viola odorata oder Cobaltum nitricum haben dieselbe leichte Wirkung auf das Weinen und führen mit dem Trost Besserung herbei, und zwar mit einem Verhaltensmuster, das dem von Pulsatilla sehr ähnlich ist.

In jedem Fall glaube ich, daß jedes Arzneimittel sein eigenes charakteristisches Bild beinhaltet, sowohl bei denjenigen Symptomen, die wir als mentale Symptome bezeichnen, wie auch bei denen mehr allgemeiner Natur. Es ist eine Tatsache, daß in der Mehrheit der Fälle die weniger bekannten Mittel in den Arzneimittellehren und den Repertorien nicht mit einem klaren Bild davon erscheinen, was wir den „Geist“ eines Mittels nennen. Aber das ist nur deshalb so, weil sie nicht genügend erforscht worden sind. Es ist das Studium des Arzneimittels, das oft keinen ausreichend klaren ‘mind’ hat, und nicht etwa der Patient, der mit diesem Heilmittel behandelt werden kann. Das sollte uns zu denken geben.

Mein Ansatz ist, wie ich bereits ausgeführt habe, Ähnlichkeitshypothesen zwischen den verschiedenen Arzneimitteln aufzustellen und dabei möglichst zu verstehen, was für die Verschreibung eines Polychrests vorhanden sein muß. Wenn das, was meiner Meinung nach vorhanden sein müßte, um ein Polychrest zu verordnen, jedoch nicht vorhanden ist,

dann ist dies schon der Hinweis auf ein Mittel, das ihm ähnlich ist. Danach bestätige ich solche Hypothesen durch erfolgreich behandelte Fälle und einem langen follow-up.

Meine Informationen erhalte ich von den Patienten, die ich mit Erfolg behandele. Wenn ich bei mehreren Patienten die gleichen Symptome vorfinde oder Verhaltensmuster, die

bei mehreren Personen vorliegen, die ich mit der betreffenden Substanz behandelt habe, meine ich, einen interessanten Teil des Bildes dieser Arznei offengelegt zu haben.

Ich glaube, daß keine medizinische Substanz für sich so präzise dargelegt werden kann wie es über das Geschehen eines erfolgreich behandelten Patienten der Fall ist.

Niemand von uns kann ein Arzneimittel besser kennen als der Patient selbst, der es genommen, und gute Ergebnisse damit erzielt hat. Dennoch scheint mir die am meisten verbreitete Tendenz dahin zu gehen, daß dem schriftlichen Inhalt der Arzneimittellehren größere Bedeutung zugemessen wird, anstatt auf das zu hören, was die Patienten uns sagen.

Das Interessante ist nämlich, daß der größte Teil unserer Bücher Kopien von Kopien anderer Bücher sind, und daß oft derjenige, der über ein bestimmtes Arzneimittel schreibt, dieses gar noch nie mit Erfolg verordnet hat. Ein anderer wichtiger Punkt ist, daß ich nicht glaube, daß die sogenannten mentalen Symptome wichtiger sind als die physischen Symptome. Ich finde, daß es sehr wichtig ist, einen deutlichen Unterschied zwischen den Symptomen des Patienten und den Symptomen des Arzneimittels zu machen.

Es ist einleuchtend, daß jeder Mensch seine eigene, spezifische Persönlichkeit aufweist; genau so wie es einleuchtend ist, daß das beste Ergebnis, das man bei einer Therapie erzielen kann, ein Zustand nicht nur körperlichen Wohlbefindens ist. Aber das, was uns in die Lage versetzt, die spezifischen Charakteristika eines Arzneimittels zu erkennen, sind nicht immer und nicht ausschließlich die sogenannten mentalen Symptome. Die Beschreibung eines homöopathischen Arzneimittels, wie es aus einer Prüfung hervorgeht, ist nicht die Erklärung, wie das Heilmittel beschaffen ist, sondern nur ein Aspekt des Phänomens, wie diese Substanz mit dem Menschen interagiert. In der Durchführung einer Prüfung stehen wir einem Phänomen gegenüber, nämlich wie sich diese Substanz darstellt, wenn sie mit dem Menschen in Berührung kommt.

Bei einer Prüfung mit Nux vomica beobachet man logischerweise als erste Syptome solche, die den Verdauungsapparat belasten, ebenso logisch ist es bei einer Prüfung mit Anhalonium, zu beobachten, daß die ersten Symptome den mentalen Bereich betreffen. Das bedeutet aber nicht, dass Nux vomica keine mentalen Symptome hervorbrächte, genauso wie es nicht bedeutet, dass Anhalonium keine physischen Symptome hätte. Es bedeutet lediglich, daß es Arzneimittel gibt, wie es auch Menschen gibt, die sich auf eine bestimmte Art und Weise darstellen und nach ihrem Vermögen ihre Symptome aufzeigen. Das Auftauchen eines bestimmten Bauchschmerzes bedeutet nicht weniger Leiden als es eine Person mit einer bestimmten Form von Angstzuständen empfindet. Insbesondere kann ein bestimmter Bauchschmerz spezifischer sein als eine allgemeine Empfindung von Angst.

Meiner Meinung nach ist es für eine gute homöopathische Verordnung wichtig, folgendes zu erkennen: die Charakteristika, durch die das Arzneimittel sich darstellt.“

 

Frage: Verstehe ich Sie also richtig, das Sie z. B. Nux vomica aufgrund der physischen Symptome geben würden, ohne nach einem Gemütssymptom, wie beispielsweise „Reizbarkeit“, zu sehen?

Dr. M.M.: Das hängt vom Fall ab. Ich glaube, es ist wichtig, sich ein Bild von dem wirklich Wesentlichen eines Arzneimittels zu machen, um es erfolgreich zu verordnen.

Es gibt Situationen, in denen es nicht leicht oder nicht möglich ist, die charakteristischen Symptome des ‘Gemüts’ von Nux vomica zu beobachten. Was ich für wichtig erachte,

ist Klarheit darüber, ob zum Beispiel ein gewisser Typus Aggressivität das Spezifischste und Notwendigste für die erfolgreiche Verordnung von Nux vomica ist und wie tief

man dabei gehen muß. Es gibt mindestens zwei Ebenen der Wahrnehmung dessen, was wir meinen, wenn wir Nux vomica sagen.

Es gibt die allgemeine Ebene, die wir von verschiedenen Autoren in den Arzneimittellehren beschrieben finden; jene Ebene, über die man mit Kollegen diskutieren kann und bei der man versucht, im Laufe der

Zeit ein immer deutlicheres Bild des Mittels herauszuarbeiten, das uns einen Konsens darüber ermöglicht, was wir in der Homöopathie meinen, wenn wir über Nux vomica sprechen.

Dann gibt es eine andere, eine spezifischere und persönlichere Ebene, etwas, was zu der charakteristischen Art und Weise eines jeden einzelnen Homöopathen gehört, einen Nux vomica-Patienten zu erkennen.

Ein jeder von uns setzt sich auf eine absolut spezifische Weise zu seinen Patienten in Beziehung. Die Wahrnehmung unserer spezifischen Reaktion angesichts eines Nux vomica-Patienten ist keine Frage der Magie, sondern schlicht die Erkenntnis darüber, wie wir funktionieren. Das ist nicht übertragbar, es ist eine Analogsprache und als solche kann sie nicht reduziert werden auf etwas, was man niederschreiben kann oder über das man sprechen kann. Es ist eine einmalige und charakteristische Erfahrung für jeden einzelnen Homöopathen, dessen Wissen und Erkenntnis jedoch genauso wichtig ist wie die Kenntnis und Erkenntnis dessen, was wir in den besten Arzneimittellehren lesen.

 

Frage: Also stehen für Sie die Gemütssymptome -ich frage Sie noch einmal, weil ich diesen Punkt für sehr wichtig halte- nicht unbedingt an der Spitze, beim Repertorisieren?

Dr. M.M.: Nicht eigentlich. Die mentalen Symptome eines Patienten sind eine Sache, hinsichtlich derer ich eine Entwicklung und eine bestmögliche Form der Modifizierung erwarte.

Aber das bedeutet nicht, daß die mentalen Symptome dieses Patienten notwendigerweise die charakteristischsten Symptome des Arzneimittels sind, das ich in diesem Fall in Betracht ziehe. Viele Mittel haben nur deswegen keine charakteristischen mentalen Symptome, weil man sie nicht kennt. Andere Mittel haben keine charakteristischen mentalen Symptome, weil sie sich nicht in charakteristischer Weise durch mentale Symptome ausdrücken, sondern vielleicht durch eine charakteristische Form von Schmerz.

Etwas zu suchen, was nicht vorhanden ist, dient nur dazu, die Illusion zu vermitteln, ein Mittel zu verschreiben, das man zu kennen glaubt.

 

Frage: Wenn Sie auf ein Mittel wie z . B. „Alloxanum“ kommen, wie haben Sie es dann repertorisiert?

Dr. M.M.: Ich denke, daß es vor allem wichtig ist, zu klären, wie man das Repertorium nutzen kann. Es handelt sich um ein sehr nützliches, aber meiner Meinung nach obsoletes Instrument. Trotz der tätigen Bemühungen von Kollegen, die seit Jahren mit Leidenschaft in ihrem Beruf arbeiten, ist das Repertorium, so, wie es konzipiert worden ist, voller Ungenauigkeiten. Es ist wahr, daß dieses Instrument im

Lauf der Zeit immer umfangreicher wird, weil immer mehr Daten über die Arzneimittel zur Verfügung stehen. Die Gefahr dabei ist, daß wir eines Tages eine ungeheure Menge Daten, aber wenige wirklich nützliche Informationen haben. Ich glaube, es ist wichtig, eine Synthese der wirklich wesentlichen Anschauungen vorzunehmen; genauso wichtig ist

eine aufmerksame Bewertung der Symptome, die hinzukommen.

Ich verwende und betrachte das Repertorium in gleichem Maße wie auch alle anderen Bücher. Wenn Du einmal zurückdenkst, so sind wir ja dazu gekommen, ein Buch wie dieses Repertorium herzustellen, weil die Symptome aus den Arzneimittellehren nicht so ohne weiteres auffindbar sind. und nun, wo der Computer ein solch populäres Instrument geworden ist, ist es leichter möglich, präzisere Informationen zum Repertorium aus „Quellen“ zu beziehen, direkt aus den Büchern, und ich hoffe, in Zukunft vor allem aus erfolgreich behandelten klinischen Fällen.

Aber zurück zu Ihrer Frage. Dazu muß ich einige Auffassungen klarstellen. Es gibt Fälle, in denen Du soviel Glück haben kannst, daß Du eine beträchtliche Anzahl von deutlichen Symptomen für Alloxanum findest, und es kann sein, daß diese Symptome auch im Repertorium enthalten sind. Aber das geschieht sehr selten.

Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, eine Vorstellung davon zu haben, wie Alloxanum sich zeigen kann und welchen anderen Arzneimitteln es ähnlich sein kann. Beim Studium von Alloxanum bin ich zunächst zu der Ansicht gelangt, daß dieses Mittel sehr viel mit Sepia und mit Natrum muriaticum gemeinsam haben könnte. Von dieser Überlegung ausgehend versuche ich, wenn bei einer Repertorisation auch ein oder zwei Symptome von Alloxanum auftauchten und andere Symptome, die dieses Mittel nicht abdeckt, die aber für Natrium oder für Sepia vorliegen, gründlicher nachzuforschen. Wenn ich beim Patienten die Gesichtspunkte, die ich für charakteristisch und unerläßlich für die Verschreibung von Sepia oder Natrium halte, nicht finde, dann ziehe ich Alloxanum näher in Betracht, auch dann, wenn ich nur ganz wenige Symptome für dieses Mittel habe. Danach versuche ich, eine gründlichere Erforschung dieser Arznei vorzunehmen, um zu sehen, ob auch Symptome toxikologischer oder pharmakologischer Art vorliegen, die meine Vermutung untermauern könnten oder mir für den betreffenden Patienten irgendwelche Anregungen geben könnten.

Wenn die Verordnung Erfolg gebracht hat, dann kann ich dem Patienten viele direkte Fragen stellen, um eine immer genauere Vorstellung zu bekommen. Wenn es mir schließlich gelingt, mehr als einen Patienten erfolgreich zu behandeln, dann versuche ich zu verstehen, welche Aspekte diese Patienten gemein haben. Nur so kann ich diese Symptome in mein Repertorium aufnehmen, und wenn ich feststelle, daß es verläßliche Symptome sind, dann veröffentliche ich sie. Ich glaube, daß es wichtig ist, das Repertorium auch im ausschließenden Sinne zu verwenden.

Ich suche einerseits das, was von einem Arzneimittel vorhanden ist, so wie ich auch dem Wichtigkeit beimesse, was von einem Arzneimittel eben nicht vorhanden ist. Aus diesem Grunde benutze ich sehr oft die Repertorien.

Wenn ein deutliches Symptom für ein wohlbekanntes homöopathisches Arzneimittel in einem Repertorium nicht enthalten ist, dann bedeutet das, daß dieses Arzneimittel das entsprechende Symptom wahrscheinlich nicht beinhaltet - dies trifft häufig für die Polychreste zu. Wenn ein deutlich vorhandenes Symptom jedoch für ein wenig bekanntes Arzneimittel nicht notiert ist, dann ist dies nicht von so großer Bedeutung, weil dieses Mittel noch nicht genügend erforscht worden ist.

Doch wenn ein kleines Mittel mit wenigen deutlichen Symptomen angezeigt ist, dann ist dies sehr von Nutzen.

 

Frage: Der wichtigste Punkt ist also immer, daß man die „Essenz „eines Mittels verstanden hat, bevor man es verordnet?

Dr. M.M.: Gewiß. Ich glaube nicht, daß diese Auffassung so ganz neu ist, seit Jahren versuchen fast alle Homöopathen, dies zu tun. Auch hier denke ich wieder, daß das Konzept von der „ Essenz“ sich auf das Beobachtungsmodell bezieht, das wir anwenden, insofern, als dieses Beobachtungsmodell auf mehr oder weniger tiefgehende Weise die Symptome, die wir beobachten, bewertet.

Es ist ein Bedürfnis des Menschen, der Wissenschaftler und der Ärzte, die Phänomene, die sie beobachten, zu klassifizieren; ich glaube nicht, daß dies ein Bedürfnis der Natur ist.

Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, daß oft die Darstellung von Konzepten als das „Wesen eines Heilmittels“ bedeutet, eine simplifizierende und unsynthetische Beschreibung dieser Substanz zu geben.

Ein großer Reichtum der Homöopathie ist ihre genaue Beschreibung äusserst vieler möglicher Variablen im Hinblick auf ein gemeinsames Thema. Aus diesem Grund bleibe ich bei der Überlegung, daß ich es für wichtig halte, das Vorhandensein einer Art von „gemeinsamem Wesen“ bei einigen Heilmitteln zu bewerten, das, was ich eine „Familie“ von Heilmitteln nenne. Im Innern dieser Familie, glaube ich, ist es wichtig, das zu differenzieren, was Du das spezifischere Wesen einer jeden einzelnen Substanz nennst.

 

Frage: Wenn wir mit Mittelgruppen, wie z.B. den Spinnen-Mitteln arbeiten, dann wissen wir, daß es Unterschiede zwischen den verschiedenen Spinnen gibt. Gibt es aber auch so etwas wie einen gemeinsamen Nenner, der bei allen Mitgliedern dieser Gattung vorzufinden ist?

Dr. M.M.: Ja, das glaube ich. Genau das liegt meiner Auffassung von der „Heilmittelfamilie“ zugrunde. In den letzten Jahren arbeiten einige von uns Homöopathen zwar mit unterschiedlichen Vorstellungen, aber doch über ein ähnliches Konzept. Ich glaube, daß gegenwärtig niemand von uns über eine Arbeitshypothese hinaus etwas Präziseres formulieren könnte, da wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen und es einiger Jahre klinischer Bestätigung bedarf, um diesen neuen Ideen einen Sinn zu geben. Darin bin

ich sehr pragmatisch, und auch wenn ich gerne über neue Hypothesen arbeite, so halte ich doch eine Bestätigung der klinischen Daten für unerläßlich, vor allem innerhalb einer Medizin wie der unseren, wo es wirklich zu viele intellektuelle Spekulationen gibt.

Von meinem Standpunkt aus halte ich es für sehr nützlich, die Familien der Heilmittel als einen Ausgangspunkt für eine präzisere Differentialdiagnose zu betrachten. Ich wiederhole, daß es meiner Meinung nach ein Bedürfnis von uns ist, in irgend einer Weise die Realität, die uns umgibt, zu klassifizieren, und ich glaube, daß es unvermeidlich ist, unsere Behandlungsmöglichkeiten zu erweitern und zuverlässiger zu machen. Folglich wird das Bedürfnis, die Heilmittel auf der Grundlage ihrer möglichen Verwandtschaft in Gruppen zusammenzufassen, zu einer logischen Konsequenz; andernfalls sähen wir uns nämlich einer ungeheuren Menge Infragekommender und potentiell zu verschreibender Heilmittel gegenüber. Ich wiederhole noch einmal, daß das Grundproblem das Beobachtungsmodell ist, die Beschreibung dessen, was man als „ähnlich“ bewertet und definiert; andernfalls wird jede beliebige Klassifizierung in Familien möglich und verliert dadurch an Bedeutung. Ich habe den Eindruck, daß in vielen Situationen das vorherrschende Modell das „Zwiebelmodell“ ist, bei dem man oft den Fall durch Beifügung von Symptomen analysiert, indem man eine Art Verzeichnis von Symptomen erstellt, die zu guter letzt von der durch die Repertorisation indizierten Heilmittel abgedeckt werden müssen, wie auch immer diese aussehen.

Die Arbeit, die ich zu machen versuche, ist eine vertiefte Analyse dessen, was die wesentlichen und wirklich charakteristischen Züge einer jeden Gruppe der Substanzen ausmacht, und dann, weiter in die Tiefe gehend, was für jedes einzelne Mittel spezifisch zu sein scheint. Eine Betrachtensweise dieser Art funktioniert nicht, wenn man algebraisch einfach die Symptome, die man ermittelt, addiert; man muß vielmehr versuchen festzustellen, welche Beziehung zwischen den Symptomen besteht, wie sich der Patient an sie anpasst und welche Heilmittel ihm geholfen haben. Wie schon gesagt stehe ich erst am Anfang.

Ich glaube, daß ich in den letzten fünfzehn Jahren eine ganz gute Arbeit über Dutzende Familien von Heilmitteln geleistet habe, aber es liegt noch ein weiter Weg vor mir, und ich glaube nicht, daß ich das Ziel alleine erreichen kann. Glücklicherweise hilft mir eine Gruppe fähiger Kollegen. Wenn wir auf Ihr Beispiel der Spinnen zurückkommen, so gibt es dort viele „Hintergrundthemen“, von denen ich glaube, daß sie charakteristisch für die Familie der Spinnen sind. Innerhalb derselben schaue ich dann, was wirklich spezifisch für jedes einzelne dieser Spinnenmittel ist. Ich beachte, daß nicht nur die Spinnen zu dieser Familie gehören.

Zum Beispiel haben auch andere Heilmittel, vom physischen Standpunkt aus, das heißt von der Substanz her betrachtet, aus der das Heilmittel hergestellt wird, überhaupt keine Ähnlichkeit mit Spinnen, aber sie weisen dennoch eine interessante Affinität zu dem auf, was die „gemeinsamen Hintergrundthemen“ anbelangt. Abwehr- und Anpassungsstrategien, Grundlagen der Persönlichkeit, Art der Symptome.

Aus diesem Grund ziehe ich bei meiner Klassifizierung in Familien auch andere Heilmittel mit ein, die zwar zu anderen Reichen oder verschiedenartigen botanischen Klassen gehören, aber unter dem Gesichtspunkt der homöopathischen Symptomatologie sehr ähnlich sind.

Zum Beispiel glaube ich nicht, daß alle innerhalb einer bestimmten botanischen Familie vorhandenen Heilmittel sich wirklich ähnlich sind. Nach meiner Meinung trifft das für

einige zu, wohingegen andere überhaupt keine Ähnlichkeit aufweisen, wieder andere scheinen sich ähnlich zu sein, aber lediglich an der Oberfläche.

Um Dir ein Beispiel zu geben: in die Familien der Schlangen beziehe ich Heilmittel wie „Zincum phosphoricum“ oder „Cimicifuga“ ein, zur Familie der Nachtschattengewächse

zähle ich auch Heilmittel wie „Lyssinum“ oder „Gallicum Acidum“.

Natürlich kann man darüber diskutieren, warum wir die Familie, in der sich Zincum phosphoricum befindet, die Familie der „Schlangen“ nennen: es handelt sich lediglich darum, einer Gruppe von Substanzen, in der eines der bekanntesten Heilmittel unter homöopathischem Gesichtspunkt Lachesis muta ist, einen Namen zu geben.

Man könnte sie genau so gut Familie „Nummer eins“ nennen, oder ihr jeden anderen beliebigen Namen geben. Auch in anderen botanischen Familien gibt es Heilmittel, die meiner Ansicht nach unter homöopathischem Gesichtspunkt eine deutliche Affinität zueinander haben.

Tanacetum zum Beispiel halte ich für verwandter mit anderen Heilmitteln, die unter die botanische Familie der Kompositen oder Asteracae eingeordnet sind. In der Tat scheint es mir dem Stramonium sehr viel ähnlicher zu sein als der Chamomilla. Ich könnte Dir viele Bespiele dieser Art nennen.

 

Frage: Manchmal ist es schwierig, zwischen den Mitteln zu unterscheiden. Wäre es vielleicht eine Möglichkeit, zunächst eine Mittelgruppe zu bestimmen, um dann darüber nachzudenken, welche der zu dieser Gruppe zählenden Arzneien dann am geeignetesten zu sein scheint?

Dr. M.M.: Ich kann Dir ein Beispiel im übertragenen Sinn nennen. Wenn Du ein Sternbild beobachtest, dann beschließt Du, eine gemeinsam von einigen Sternen gebildete Figur zu betrachten. Ich denke nicht, daß wir definieren können, wofür eine Arznei steht, wenn wir dies auf der Basis nur eines einzigen Themas oder eines einzigen Symptoms versuchen - d.h. auf unser Beispiel angewandt, indem wir nur einen einzigen Stern beobachten. Hering selbst sprach von einem Dreifuß, aber ich glaube, daß es sich dabei nur um ein Beispiel

im symbolischen Sinne handelt, weil es nicht immer ausreicht, nur drei Hintergrundkonzepte zu betrachten, um ein Arzneimittel, und oft noch weniger eine homöopathische Familie genau zu bestimmen. Wie bei einem Sternbild oft drei Sterne auch nicht genügen, um es zu bestimmen.

Es ist ein guter Ausgangspunkt, einen Stern wiederzuerkennen, aber ohne die anderen Sterne hast Du nur den Teil eines Bildes, das noch genauer bestimmt werden muß.

Es wird oft zu einem Gemeinplatz anzunehmen, daß das Gefühl der Verlassenheit ein typisches Problem nur von Lachesis sei. Viele andere Mittel haben ein ähnliches Problem, und alle Schlangen haben dasselbe Problem, aber auf eine der Lachesis ähnlicheren Weise als es z.B. das Gefühl der Verlassenheit bei Hura brasiliensis ist.

 

Frage: Gibt es gemeinsame Symptome, wie „Eifersucht“ oder „Geschwätzigkeit“, die sich durch alle Schlangen-Mittel ziehen?

Dr. M.M.: Ja. Ich denke, es ist wichtig, von einigen dieser Beobachtungen auszugehen, um sich eine genauere Vorstellung von dem Patienten und dem Mittel zu machen, das ihm helfen kann. Um zum von Ihnen angeführten Beispiel zurückzukehren, so glaube ich, daß Eifersucht und Geschwätzigkeit wichtige Symptome im Verhalten vieler Schlangen sind. Aber wenn wir bei diesem Beispiel bleiben, dann ist die Geschwätzigkeit der von den „Crotaliden“ herrührenden Heilmittel sehr viel anders als die der „Elapiden“. Während die Crotaliden im allgemeinen eher egozentrisch sind, treten die Elapiden oft mit einer eher unsicheren Persönlichkeit auf. Innerhalb der Elapiden unterscheiden sich dann Naja und Elaps auch noch einmal im Hinblick auf die Art, wie sie die jeweilige Unsicherheit zum Ausdruck bringen.

Oft kann man Elaps mit Mitteln verwechseln, die für ihre offensichtliche Schüchternheit bekannt sind wie etwa Pulsatilla.

Naja kann sehr oft mit den für Silicea typischen Symptomen auftreten. Nichtsdestotrotz haben alle aus Schlangengift hergestellten homöopathischen Mittel viele andere Symptome unbedingt gemeinsam, aber ich halte es für einen schweren Irrtum, Lachesis als Paradigma für alle anderen Schlangen anzusehen.

Lachesis ist innerhalb seiner Familie ein ganz eigenes Tier: es mag Ihnen zum Beispiel genügen zu beachten, daß es „stumm“ heißt, weil es nicht wie die anderen Crotaliden die Klapper hat, obwohl es ein Crotalide ist und sein Verhalten sehr viel aggressiver ist als das der Mehrzahl der Schlangen, die wir in der Homöopathie verwenden.

Entsprechend erscheinen auch die Patienten, denen dieses Heilmittel zuträglich ist, im allgemeinen als sehr egozentrisch und aggressiv, oft mit starken Machtproblemen, wie

Du es bei Elaps überhaupt nicht siehst. Trotzdem sind viele Symptome von Lachesis aber Symptome, die alle Schlangen aufweisen, die wir verwenden, mit dem Unterschied jedoch, daß viele dieser Symptome für diese nicht genügend bekannt sind;

nicht etwa, weil sie nicht vorhanden wären, sondern einzig deshalb, weil wir nicht genügend Informationen über die anderen Schlangen haben.

Zum Beispiel haben auf oberflächlicherer Ebene alle Schlangen-Patienten mehr oder weniger die gleichen Probleme beim Schlucken, das gleiche Gefühl der Einengung, ähnliche Gefäßerkrankungen und Gerinnungsstörungen sowie viele andere Affinitäten.

 

Frage: Benutzen Sie auch Hinweise oder Verhaltensweisen lebender Schlangen, um es auf die Mittel, mit denen Sie arbeiten, zu übertragen?

Dr. M.M.: Ich halte es für sehr wichtig, nicht nur im speziellen Fall der Schlangen, Informationen ausserhalb unserer homöopathischen Literatur zu sammeln.

Ich glaube, daß die Prüfung nicht die einzige Möglichkeit ist, um zu einer Vorstellung davon zu gelangen, welche Beziehung zwischen einer bestimmten Substanz und dem Menschen oder den Tieren besteht.

Ich halte die Prüfungen für eine Art äußerst nützlicher Forschung , die unerläßlich ist, bei der Erforschung von Symptomen, wie wir es in der Homöopathie machen. Aber ich glaube auch, daß jede gute Prüfung bis zur klinischen Bestätigung der Symptome, die sie hervorgebracht hat, eben nur eine Prüfung bleibt. Es scheint mir logisch, daß eine beliebige Substanz nicht als „Heilmittel“ angesehen werden kann, solange sie nicht mit guten Ergebnissen in der Klinik angewendet worden ist.

Meiner Ansicht nach ist die Prüfung ein „Gesichtspunkt“, ein grundlegender Gesichtspunkt für den Homöopathen, aber ich persönlich ziehe es vor, nicht dabei stehenzubleiben.

Nicht zufällig sind die ersten Prüfungen homöopathischer Arzneimitteln fast alle von bereits vorhandenen Vorkenntnissen über die betreffende Substanz ausgegangen. Und diese Kenntnisse kamen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten. Die gedankliche Vorstellung, und manchmal auch die Intuition, die zu der Vermutung führt, daß eine bestimmte Substanz zu einem Heilmittel werden könnte, entsprang aus

Kenntnissen der Toxikologie und Pharmakologie, aus der Anwendung von Heilpflanzen oder verschiedenen Medizinen schon in der Antike - aus der Tradition, manchmal aus Mythen, dem Volksglauben oder anthropologisch zu bewertenden Phänomenen. Im Falle der Tarantula zum Beispiel hat man jahrhundertelang geglaubt, daß eine bestimmte Art

von Krankheit, Choreomanie (Tanzwut) genannt, durch das Gift einer Spinne verursacht würde, und daß diese Krankheit nur durch ein bestimmtes Ritual geheilt werden könne,

das hauptsächlich aus einer bestimmten Art von Musik bestand. Die Quellen, aus denen wir unser Material entnommen haben, sind äußerst unterschiedlicher Natur, und es ist ganz und gar nicht einfach, eine plausible Erklärung für die Bedeutung dieser Beziehung zwischen Mensch und Natur zu geben, ohne in Diskussionen magischer oder philosophischer Natur hineinzugeraten, die heute leider sehr weit entfernt von der akademischen medizinischen Wissenschaft zu sein scheinen.

Am Anfang meiner Untersuchungen war ich praktisch gezwungen, außerhalb unserer homöopathischen Literatur zu forschen. Ich empfand das Bedürfnis, mehr über die Arzneimittel zu erfahren, die nicht ausreichend experimentell erprobt waren und infolgedessen in der Klinik nicht verwendet wurden. Zu meiner großen Überraschung habe ich festgestellt, daß

es eine „Kohärenz“ in den unterschiedlichen „Beschreibungen“ gibt, die der Mensch von den verschiedenen Substanzen, die wir als Heilmittel verwenden, geliefert hat. Es ist faszinierend zu sehen, wie wir das, was ich die „Hintergrundthemen“ eines jeden Heilmittels nenne, in der Toxikologie, in der Pharmakologie, in der traditionellen Anwendung,

ja sogar in den Volksmythen wiederfinden können.

Der Mensch hat versucht, seine Beziehung zur Natur, in der er lebt, auf die unterschiedlichsten Arten zu beschreiben -von der Poesie bis zur wissenschaftlichen Forschung- und oft treffen am Ende dieselben Auffassungen wieder zusammen. Das ist der Zusammenhang, den ich suche, wenn ich ein homöopathisches Arzneimittel erforsche.

Jede Substanz muß, um in unseren Augen als solche zu gelten, in einer Art „Struktur“ aufgebaut sein. Diese Struktur und die Umwelt, die sie umgibt, beeinflussen sich gegenseitig auf dynamische Weise vermittels einer Reihe von Strategien, die angewandt werden, um diese Substanz, so wie sie ist, zu erhalten. Die Homöopathie mißt den endogenen Mechanismen für ein System, die dazu dienen, dieses System im bestmöglichen Gleichgewicht zu halten, eine vorrangige Bedeutung zu. Ein gutes Heilmittel stimuliert diese Mechanismen und wir sagen, daß es „heilt“. Die Erforschung dieser Strategien in der Physiologie einer Substanz scheint mir den Strategien, die in der Pathologie eines Systems angewandt werden, das mit dieser Substanz geheilt wird, sehr ähnlich zu sein.

Im Grunde sind genau das die Phänomene, die wir während einer Arzneimittelprüfung und während der klinischen Anwendung beobachten. Unser Problem, auch angesichts einer gut durchgeführten Prüfung, ist immer der Versuch, zu verstehen, was wirklich wichtig ist bei der Betrachtung, sonst bleibt auch die beste Arzneimittelprüfung nichts anderes als eine Auflistung von Symptomen, ohne jede Logik, ohne jede Organisation und ohne Seele. Auf dasselbe Problem stoßen wir angesichts einer ähnlichen Liste von Symptomen, die wir durch die Klinik bestätigt finden können.

Das große Problem bei den Polychresten ist, die Untersuchung von tausenden von Symptomen vorzunehmen und eine vernünftige Synthese herzustellen. Im Falle der sogenannten „kleinen Heilmittel“ ist das große Problem genau umgekehrt. Mein Untersuchungsmodell beruht auf einer vertieften und erweiterten Erforschung der Substanzen, die wir für die Herstellung eines homöopathischen Heilmittels verwenden.

Natürlich messe ich der Tatsache, daß die Symptome der Prüfungen durch die Klinik bestätigt werden, allergrößte Wichtigkeit bei, aber ich suche immer womöglich auch nach Informationen außerhalb der Homöopathie. Meine Absicht ist es, zu einer Synthese zu gelangen, die mir entweder hilft, die Vielfalt an nutzlosem Material bei den Polychresten

zu reduzieren, oder die Kenntnisse über die weniger bekannten Heilmittel zu erweitern und zu präzisieren.

Ich möchte nochmals unterstreichen, daß am Ende dieses Prozesses die Bestätigung dieser Hypothesen durch eine beträchtliche Anzahl erfolgreich behandelter klinischer Fälle stehen muß. Andernfalls wage ich nicht, von einem Heilmittel zu sprechen und nehme auch keine Ergänzungen zu meinem Repertorium vor.

 

Frage: Könnte es ein Hinweis für die Richtigkeit des Mittels sein, wenn jemand eine auffällige Abneigung, oder umgekehrt, eine starke Sympathie für Schlangen oder Spinnen aufweist?

Dr. M.M.: Das glaube ich eigentlich nicht. Ich halte das für einen sehr oberflächlichen Ansatz. Es stimmt zwar, daß ein Patient, der gut auf ein Arzneimittel reagiert, das von

einer Spinne stammt, eine enge Beziehung zu diesem Tier hat, aber das trifft auch für viele andere Heilmittel zu.

Ich glaube, Hahnemann hatte Recht, als er gegen die oberflächliche und ungeeignete Verwendung der „Kennzeichnungen“ zu Felde zog, wie sie zu seiner Zeit üblich war.

Aber bis heute scheinen sich die Dinge leider nicht sehr geändert zu haben.

Ich persönlich meine, daß die analoge Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur, in der er lebt, von wesentlicher Bedeutung ist, sonst könnten wir uns nicht erklären,

wie es möglich war, den therapeutischen Nutzen so vieler Pflanzen zu kennen, ohne irgendwelche Kenntnisse von Chemie oder Pharmakologie zu haben. Heute leben wir in einem Zeitalter der Wiederentdeckung und der Aufwertung der Bedeutung von Analogien, die ich persönlich ohne Einschränkung teile. Aber eine Analogbeziehung ist eine Erfahrung,

per definitionem ist es etwas, das man mit Worten nicht beschreiben kann, ohne daß es in erschreckendem Umfang an Bedeutung verlöre. Es ist kein Zufall, daß die Kulturen, die sich auf eine analoge und „magische“ Annäherung an die Natur stützen, diese Kenntnisse überliefert haben, ohne sich der Schriftform zu bedienen, sondern vielmehr der Verwendung von Symbolen den Vorzug gaben. Ich glaube, daß es sehr riskant ist, den Begriff der Kennzeichnung auf dermaßen banale Beziehungen zu reduzieren.

 

Frage: Es gibt viele gut bekannte Mittel, die in bestimmten Fällen ziemlich zuverlässig helfen - Arnica bei Verletzungen, Cantharis bei Sonnenbrand, Apis bei Bienenstichen usw.

Gibt es Beschwerden, bei denen man „kleine“ oder unbekannte Mittel mit derselben Wirksamkeit einsetzen könnte?

Dr. M.M.: Das Beispiel, das Sie anführen, bezieht sich auf die akute und symptomatische Anwendung einiger Arzneimittel für einige Beschwerden, die wir meiner Meinung nach nicht als Krankheiten bezeichnen können. Außerdem beschäftigt sich der homöopathische Ansatz per definitionem mit den Kranken in ihrer komplexen Gesamtheit. Dessen ungeachtet gibt es verschiedene, wenig bekannte Arzneimittel, die ich

in akuten und sehr genau beschriebenen Situationen für wirkungsvoll halte. Mir kommt Bel-p. in den Sinn, das ich bei Brüchen oder Eingriffen am Uterus, auch bei Tieren, mit besseren Ergebnissen einsetze als Arnica. Phellandrium und Medusa, um die Milchproduktion zu stimulieren.

Buthus australis bei akuten Lebensmittelhepatitiden und gleichzeitigem Ikterus.

Pituitaria anterioris bei beginnenden Nickelallergien.

Chininum sulphuricum in der Malariaprophylaxe. Und viele andere, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich stets eher zurückhaltend bin, mit der Nennung von Beispielen dieser Art.

 

Frage: Behandeln Sie Hauterkrankungen, wie z.B. Neurodermitis, ebenfalls mit kleinen Mitteln?

Dr. M.M.: Ich halte die Unterscheidung zwischen einem Polychrest und einem weniger bekannten Heilmittel für sinnlos, sowohl unter einem mehr theoretischen Gesichtspunkt als auch unter dem Aspekt meiner täglichen Praxis; es handelt sich hier um eine rein numerische Frage. Vielleicht scheint es Ihnen selbstverständlich, aber ich suche immer dasjenige homöopathische Arzneimittel, das mir am geeignetsten erscheint. Ich habe die Angewohnheit, jedes Jahr eine Überprüfung der Mittel vorzunehmen, die ich am häufigsten verschreibe, und natürlich gibt es Unterschiede auf der Grundlage dessen, was ich untersuche und besser zu kennen glaube. Im wesentlichen sind mehr als 70% meiner Verschreibungen keine Polychreste, und die Mehrheit der Patienten, die ich behandele, leidet unter schweren chronischen Krankheiten.

 

Frage: Welche Bedeutung messen Sie Symptomen zu, die auf der Haut erscheinen, z.B. „blutend, nach Kratzen“ oder „Absonderungen, gelb, honigartig“?

Haben diese Symptome Gewicht, oder beachten Sie sie weniger, weil sie auf der Haut erscheinen?

Dr. M.M.: Ich glaube, daß alle Symptome potentiell wichtig sind, auch solche, die noch nicht im Repertorium enthalten sind, da sie ausgezeichnete Informationen für eventuelle Erweiterungen desselben darstellen, wenn sie klinisch bestätigt sind.

Die Bewertung eines Symptoms der Haut als weniger wichtig gegenüber einem tiefer liegenden Symptom ist etwas, mit dem ich nicht einverstanden bin.

Die „Tiefe“, mit der Sie ein Symptom bewerten, ist lediglich eine Frage des Beobachtungsmusters, das Sie anwenden. Offensichtlich ist es weniger schwerwiegend, an Juckreiz zu leiden als an einer Depression, aber es gibt zahlreiche Fälle, in denen ein Symptom auf der Haut das einzig mögliche sichtbare Anzeichen für ein Leiden bei einem Menschen ist.

Wie tiefliegend dieses Leiden ist, ist nicht so einfach und unmittelbar zu bewerten. Und oft, auch nach mehr als einer Konsultation, gibt es Dinge, die nicht zutage treten, und das kann vielerlei Gründe haben. Das geht von der Beziehung zum Arzt bis hin zur Typologie dieses bestimmten Patienten, dem vielleicht die Worte fehlen, um sein „Übel“ zu beschreiben. Vor allem, wenn Du kleine Kinder, Tiere oder Patienten behandelst, bei denen sich sehr früh ein großes Trauma ereignet hat, zu einem Zeitpunkt nämlich, an dem es nicht möglich ist, verbal auszudrücken, was passiert, zu einem Zeitpunkt, an dem das Bewußtsein nicht in der Lage ist, etwas anderes herauszuarbeiten -  dann kann ein Symptom der Haut eine sehr großes Gewicht haben.

Die Charakteristika eines bestimmten Symptoms auf der Haut können bei der Hervorbringung von Symptomen, die ein komplexeres Leiden des Systems ausdrücken, sehr hilfreich sein und sind eben nicht nur das oberflächliche Bild eines isolierten Symptoms. Ich glaube aber trotzdem, daß dies sehr schwer zu verallgemeinern ist, jeder Fall ist eine Geschichte für sich.

 

Frage: Was ist der wichtigste Punkt, den Sie während Ihrer Praxisarbeit lernen mußten?

Dr. M.M.: Ich glaube, daß ich dem Studium der Homöopathie zuviel Bedeutung beigemessen habe in bezug auf die Zeit, die ich dazu aufgewendet habe, um mich hinsichtlich der Beziehung zu meinen Patienten auszubilden. Gewiß zwingt mich die Leidenschaft für die Medizin und die Homöopathie jeden Tag zur Konfrontation mit meiner eigenen Unwissenheit. Angesichts dieses Fasses ohne Boden scheint das, was ich lerne und zu kennen glaube, nie genug zu sein. Im Laufe der Zeit denke ich anders über meine Mißerfolge, und meiner Meinung nach ist es nicht möglich, ein ganzes Leben lang zu meinen, es handele sich nur um die Frage, das „beste Arznei-mittel“ zu kennen, und einfach nur noch mehr lernen zu müssen. In der Geschichte der Menschheit bis heute hat es so viele unterschiedliche Auffassungen von der Medizin und der Kunst des Heilens gegeben, und noch viele weitere werden dazukommen. Der einzige gemeinsame Nenner all dieser Arten von Medizin, die oft Kriterien aufweisen, die sich in augenscheinlichem Gegensatz zueinander befinden, ist die Tatsache, daß es da jemanden gibt, der um Hilfe bittet, und einen anderen, der glaubt, ihm diese Hilfe geben zu können. Was zwischen diesen beiden Personen passiert, ist etwas sehr Komplexes, das wir noch nicht erforscht haben, und das meiner Meinung nach bis aufs Letzte sehr schwer zu verstehen ist. Nach meiner Ansicht hat sich die Homöopathie niemals ausreichend für dieses Problem interessiert, und auch heute noch, zweihundert Jahre nach ihrer Entstehung, und ein Jahrhundert nach den sonstigen grundlegenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Medizin und Psychologie scheint es immer noch so, als wäre das Höchste an Wissenschaftlichkeit bei unseren Forschungen, zu überprüfen, ob die Arzneimittel auf isoliertes Gewebe wirken oder ob es möglich ist, dieselben Kriterien der statistischen Untersuchung anzuwenden wie die konventionelle Medizin.

Ich glaube, wir müssen hier noch sehr viel mehr tun und uns wirklich einem ernsthafteren und wissenschaftlicheren epistemologischen Modell zuwenden.

Was ich in all den Jahren gelernt habe ist, daß es zu vieles gibt, was ich nicht weiß, und daß ich nicht alle Patienten heilen kann, die mich um Hilfe bitten. Anfangs hat mich das sehr deprimiert, jetzt empfinde ich das mehr als einen Anreiz, weiterzumachen, ohne zu denken, einfach nur mehr lernen zu müssen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht um das, was ich nicht wußte, jetzt akzeptiere ich mit weniger Unbehagen, daß ich trotz allem mein ganzes Leben lang vor einem Geheimnis stehen werde.

 

Rainer Ginolas: Dr. Mangialavori, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

Die Einstufung der homöopathischen Arzneien in „große" und „kleine" Mittel. Dabei meint „groß", daß das entsprechende Mittel gut geprüft und häufig eingesetzt wurde - somit viele klinische Bestätigungen erfahren hat. Aus diesen Gründen erhält es dann den Status eines sogenannten Polychrests. Die „kleinen" Arzneimittel dagegen wurden bislang entweder insgesamt nur selten verordnet oder nur bei eng umrissenen Symptombildern angegeben, zum Teil auch bei gewissen klinischen Indikationen, bei denen sie in der Regel aufgrund der Lokalsymptomatik oder eines einzelnen Leitsymptoms verordnet werden. Soweit sie überhaupt in nennenswerter Häufigkeit gebraucht werden, handelt es sich meist um akute Erkrankungen oder akute Exazerbationen chronischer Störungen.

Oft werden diese Kategorien auch als „wichtig" und „weniger wichtig" mißverstanden. Man glaubt, daß „kleine" Mittel seltener angezeigt und weniger wirksam seien als ihre „großen Brüder". Dieses Vorurteil gilt es zu revidieren - sonst wird man kaum einmal ein bislang unterschätztes oder ein neu in die Materia medica eingeführtes Arzneimittel seinem wahren Wirkungspotential gemäß einsetzen können!

Ob ein Arzneimittel als „groß" oder „klein" eingestuft wird, ist vor allem abhängig von seinem Bekanntheitsgrad. Dieser wiederum steigt mit einer gut durchgeführten und dokumentierten Arzneimittelprüfung, sowie mit möglichst zahlreichen und an exponierter Stelle veröffentlichten Kasuistiken. Er beruht also nicht zuletzt darauf, ob diese Informationen den praktizierenden Homöopathen zugänglich sind.

Diesbezüglich gute Voraussetzungen haben die Mittel, welche in die Hauptwerke der homöopathischen Materia medica Eingang gefunden haben (T.F. Allen: Encyclopedia of pure Materia Medica/C. Hering: Guiding Symptoms of our Materia Medica/mit Einschränkung J.H. Clarkes: Dictionary of practical Materia Medica/R. Hughes und J.P. Dake herausgegebene Cyclopaedia of Drug Pathogenesy).

Daß ein Arzneimittel in einer umfangreichen und weit verbreiteten Arzneimittellehre verzeichnet ist, garantiert jedoch nicht seinen angemessenen Einsatz in der Praxis.

Ich will zwar nicht behaupten, daß es hinsichtlich der Indikationshäufigkeit keinen Unterschied zum Beispiel zwischen Blatta und Sulphur gäbe. Es ist nur so, daß neben

der, man könnte sagen: dem Mittel innewohnenden, mehr oder minder umfangreichen Heilkraft auch -fast schicksalhaft- der homöopathische Zeitgeist und die Verfügbarkeit

der Informationen die Einsatzhäufigkeit und damit wiederum das Erkennen der Heilkraft eines Arzneimittels mitbestimmen.

Wie kommt es nun, daß zum Beispiel Nat-c. der Ruf eines eher „kleinen" Mittels anhaftet? Obwohl es umfangreich geprüft worden ist, sind praktische Erfahrungen, oder, besser gesagt, Kasuistiken, welche die Bewertung der Prüfungssymptome ermöglichen würden, vergleichsweise spärlich veröffentlicht worden. Dies führt dazu, daß Nat-c. in den Arzneimittellehren weniger eingehend, zuweilen auch gar nicht, beschrieben wird, dadurch dem Lernenden kaum einmal als studierenswert unterkommt und so, selbst in geeigneten Fällen, mangels Vertrautheit nicht berücksichtigt wird.

Bei Samuel Hahnemann umfaßt die Pathogenese von Nat-c. 1082 Symptome, was nicht wenig ist. Zusammen mit den bekannten klinischen Symptomen ergibt sich ein interessantes Bild.

Betrachtet man nun allein die psychischen Symptome, läßt sich leicht eine auffallende Ähnlichkeit mit einem anderen, wesentlich bekannteren Mittel konstatieren:

- „Abneigung gegen die Menschheit und gegen die Gesellschaft; Entfremdung von Einzelnen und von der Gesellschaft, sogar von ihrem Ehemann und ihrer Familie."

- „Ruhelosigkeit, mit Anfällen von Ängstlichkeit, vor allem während eines Gewitters; schlimmer durch Musik."

- „Ängstlichkeit beim Gewitter minder als sonst. (Heilwirkung.)"

- „Menschenscheu und furchtsam." - „Er flieht die Menschen."

Wer die Grundzüge der „wichtigsten" Mittel der homöopathischen Materia medica im Kopf hat, wird gleich die Ähnlichkeit zu Sepia erkannt haben. Tatsächlich wird Sepia

bei der geschilderten Konstellation oft blindlings verordnet, obwohl doch - das zeigt im übrigen auch das Repertorium - zumindest Nat-c. vor der Hand ebenfalls als sehr ähnlich erscheinen muß.

 

Auch andere Symptome sprechen für beide Mittel. So deckt Nat-c. wie Sepia das Abwärtsdrängen im Uterus, die Abneigung gegen Milch beziehungsweise Diarrhoe durch

Milch, etc. Natürlich gibt es auch unterscheidende Merkmale und Symptome, die das eine Mittel aufweist, das andere aber nicht. Dennoch: die Verordnung aufgrund der

genannten psychischen Symptome führt - sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Zeitnot - beinahe stets zu Sepia, selten oder nie zu Nat-c. Man darf jedoch vermuten, daß so

mancher vermeintliche Sepia-Fall auch mit Nat-c. zur Genesung kommen, sogar schneller geheilt werden könnte.

Das genannte Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit eines eingehenden Studiums der homöopathischen Materia medica und die Wichtigkeit einer Verabschiedung von „Lieblingsmitteln", die schon H. eine Warnung wert waren.

Um nicht mißverstanden zu werden: Auch ich verordne Sepia wesentlich häufiger als Nat-c., vielleicht sogar häufiger als jedes andere Mittel. Ein Vergleich zweier Arzneimittel, wie er oben gemacht wurde, ist ausserdem nur mit Einschränkung aussagekräftig. So hat die Praxis gezeigt, daß die aufgelistete Symptomenkombination in Sepia-Fällen sehr oft zugegen ist, während es sein mag, daß sie bei Nat-c.-Fällen seltener auftritt. Mancher Praktiker wird Nat-c. ohnehin nicht für ein „kleines" Mittel halten. Aber: Die individuelle praktische Erfahrung trägt dazu bei, daß das Mittel X dem einen selten, dem anderen häufiger angezeigt zu sein scheint.

Was aber soll man davon halten, wenn zum Beispiel Medorrhinum von einem Homöopathen als eines der wichtigsten homöopathischen Arzneimittel gepriesen wird, bei einem anderen dagegen hinsichtlich der Verordnungsfrequenz nur unter „ferner liefen" rangiert? Glaubt jemand allen Ernstes, daß der eine Kollege mehr Med.-Fälle in die Praxis bekomme als der andere? Ein Thema, das aber später einmal an anderer Stelle diskutiert werden muß! Hier bleibt nur festzuhalten, daß bei zu einseitiger Beschäftigung mit der Materia medica an die weniger bekannten Arzneimittel zu selten gedacht wird und so manches Mittel „einmal klein - immer klein" bleibt.

Klein bleibt ein Arzneimittel noch aus anderen Gründen:

Die Symptomatik des Mittels ist nur ungenügend erforscht. Es ist nicht oder nur fragmentarisch am Gesunden geprüft worden, und seine Anwendung leitet sich lediglich von diesen wenigen Prüfungsergebnissen ab, beziehungsweise von volksmedizinischen Verwendungszwecken, durch die es oft überhaupt erst Homöopathen auffällt.

Viele Arzneimittel sind unter besonderer Beachtung einer schon bekannten Indikation geprüft worden und die Ergebnisse wurden vor allem diesem Blickwinkel entsprechend ausgewertet, so daß andere Symptome unter den Tisch fielen. Entsprechende Veröffentlichungen, bei denen es sich oft nicht einmal um Arzneimittelprüfungen, sondern bloße Therapiestudien handelt, vertiefen in der Folge den Eindruck, es mit einem spezifischen Arzneimittel zu tun zu haben. Von einer solchen Einstufung besonders betroffen sind die Arzneimittel, die von der sogenannten naturwissenschaftlich-kritischen Richtung der Homöopathie in die Materia medica eingeführt wurden. Als Beispiel sei nur Galph. genannt, dessen klinisch belegte Wirksamkeit bei der Pollinosis an mögliche weitere Anwendungsgebiete nicht mehr denken zu lassen scheint.

Aber auch in der genuinen Homöopathie gibt es die „kleinen" Mittel. Meist sind es die, von denen nur ein, vielleicht zwei Leitsymptome (oder Keynotes) bekannt sind. Sind diese Leitsymptome zugegen, darf man das Mittel mit einigem Zutrauen verordnen und Heilung erwarten. So ist Abies nigra angezeigt bei einem Gefühl wie von einem unverdauten hartgekochten Ei im Magen. Dabei muß der Umstand berücksichtigt werden, daß Abies-n. an lediglich vier Personen geprüft wurde, von denen drei zudem nur die Tinktur einnahmen. In Allen Encyclopedia sind kaum 50 Symptome verzeichnet. Es kann sicher davon ausgegangen werden, daß eine Nachprüfung zahlreiche weitere Symptome zu Tage fördern würde.

Ein anderes Beispiel: Wenn der Kranke ständig an den roten, entzündeten Stellen, zum Beispiel an den Lippen oder der Nase, zupfen muß, obwohl der Schmerz dadurch um so unerträglicher wird, denkt man sogleich an Arum-t. Derartige Keynotes kennt man freilich auch von den Polychresten. Eine Angina, die auf der rechten Halsseite beginnt und auf die linke überwechselt, wobei der Halsschmerz durch warme Getränke besser wird, erfordert Lycopodium. Der Unterschied zwischen den „kleinen" und „großen" Mittel ist aber: Während wir an das Polychrest auch dann denken, wenn die Keynotes nicht alle vorhanden sind, fällt uns ein Mittel wie Rumx. bei einem Husten bestimmt nicht ein, wenn er nicht durch Entkleiden verschlimmert wird.

Es sei an dieser Stelle ausnahmsweise eine Hypothese gestattet:

Jeder Stoff bringt bei einer lege artis durchgeführten homöopathischen Arzneimittelprüfung Symptome hervor. Diese erfahren zwar eine gewisse individuelle Färbung durch die Prüfer, aber es müssen doch Symptome sein, die dem Mittel quasi „innewohnen" und durch die Prüfung nur zutage gefördert werden. Im Grunde stehen somit die potentiellen Symptome schon zuvor fest. Je nachdem, ob die Arzneimittelprüfung an Personen ausreichender Anzahl, verschiedenen Alters und Geschlechts, mit unterschiedlichen Potenzen, etc. geschieht, besteht die Möglichkeit, möglichst viele -aber wohl nie alle!- der dem Mittel inhärenten Symptome hervorzulocken. Jede Nachprüfung wird, neben den schon bekannten, noch nie beobachtete Symptome verzeichnen.

Letztlich entscheidend für den Bekanntheitsgrad eines Mittels - und nur darauf basiert die fehlleitende Einteilung in „große" und „kleine" Mittel - ist die Frage, ob es in der Anfangszeit der Homöopathie bis zum Abschluß der Kompilationen T.F. Allens und C. Herings geprüft und in nennenswert hoher Zahl verordnet wurde. Nur dann ist gewährleistet, daß ausreichend Informationen über die entsprechende Arznei verfügbar sind. Nicht zuletzt ist der Publikationstermin einer Arzneimittelprüfung auch dafür verantwortlich, ob das Mittel in die Repertorien aufgenommen wurde oder nicht. In jüngerer Zeit eingeführten Mitteln dagegen haftet so etwas wie der Fluch der späten Geburt an.

 

[Massimo Mangliavori]

Die „ kleinen Mittel“

Rainer Ginolas: Dr. Massimo Mangialavori, was verstehen Sie unter dem Begriff „kleine Mittel?“

Dr. M.M.: Ich mag den Begriff „kleine Mittel“ nicht sehr, ich denke, er ist nicht korrekt. Ich hege die Ansicht, daß in unseren Repertorien und Arzneimittellehren

eine Anzahl Mittel präsentiert werden, die wir besser kennen als andere. Einige kennen wir wenig, einige zu wenig, andere hingegen sind gut bekannt, werden aber nicht mehr genutzt.

Und wieder andere sind gut bekannt, wurden aber nie nach ihren tatsächlichen Möglichkeiten genutzt.

Wenige von diesen Arzneien, eigentlich sehr wenige, haben mit der Zeit aus verschiedenen Gründen den Teil der Mittel übernommen, die zu häufig und auch unkorrekt angewendet werden

- die Polychreste.

Von diesen meinen wir, vielleicht genug zu wissen und haben eine Vielfalt klinischer Informationen; und trotzdem, diese Mittel werden in einer Art und Weise verabreicht, die sehr vage

und nicht akkurat ist.

 

 

Frage: Der Begriff „kleine Mittel“ heißt also nicht etwa, daß wir über ein Gruppe von Mitteln reden, die klein in ihrer Wirkung sind?

Dr. M.M.: In der Tat glaube ich das nicht. Ich denke, es gibt viele Gründe, die einige Kollegen im Lauf der Zeit dazu geführt haben, eine derartige Hypothese zu erstellen. Vor allem hat sich seit dem Zeitalter der Aufklärung ein großer Teil des medizinischen Denkens weiter und weiter abgekehrt, hin zu einem „reduzierten Modell“. Viele Homöopathen haben sich dieser Gedankenrichtung angepaßt und gelangten so zu einer derzeit stark reduzierten und gefilterten Anzahl an Arzneimitteln.

Es ist ohne Zweifel offensichtlich einfacher, Hypothesen aufzustellen, die darauf abzielen, zu zeigen, warum eine bestimmte Therapie nicht wirkt, als einzugestehen, das das Verschreiben eines bestimmten Mittels vielleicht nicht das Bestmögliche war. Außerdem sind wir davon ab, die Homöopathie wie früher zu praktizieren, als nur wenige Mittel gebräuchlich waren und nur ein begrenztes Repertorium zur Verfügung stand. Das Repertorium wurde mittlerweise durch ständige Nutzung und Anwendung erweitert.

Das erlaubt den Homöopathen, weitere Möglichkeiten auf der Basis der beobachteten Symptome zu nutzen, anstatt sich nur auf die eigene Erfahrung zu beschränken.

Eine andere Begrenzung lag, vielleicht nicht ganz bewußt, in der geringen Anzahl von Arzneimitteln, die sich in den meisten Fällen, in der Apotheke der Homöopathen befanden.

Ich glaube, daß auch das dazu beigetragen haben könnte, das man sich auf einen kleinen Teil der Mittel beschränkte, insbesondere bei den Verschreibungen in akuten Fällen.

Diese letzte Beobachtung halte ich für besonders wichtig bei der Bewertung des häufigen Gebrauchs einiger Mittel, die in akuten Fällen verschrieben werden. In der Tat hat auch das Übermaß der repertorialen Symptome dazu beigetragen, die Polychreste mißzuverstehen, wie es auch dazu beigetragen hat, die Mittel, deren Symptome im Verhältnis zu den weniger bekannten Mitteln gut vertreten sind, über zu bewerten.

 

Frage: Dann würde der Begriff „kleine Mittel“ auch nicht heißen, das die Wirkungsweise eher lokal begrenzt ist?

Dr. M.M.: Auch dieses glaube ich nicht. Zumindest entspricht das nicht meiner Erfahrung. Seit 15 Jahren arbeite ich so, als ob alle Mittel gleich wichtig und effizient sind. Und ich glaube, daß der einzige Unterschied darin besteht, daß einige Mittel mehr oder weniger bekannt sind und in der Praxis mehr oder weniger Anwendung finden. Zu Anfang meiner homöopathischen Praxis habe ich viele Kollegen und anerkannte Lehrer gehört, die genau das behaupten, aber ich muß Dir gestehen, daß mich das nie überzeugt hat. Es erschien

mir immer als Widerspruch, daß auf der einen Seite die umfangreiche Arbeit steht, die Suche nach den Anwendungsmöglichkeiten der Mittel (= Arzneimittelprüfung) und auf der anderen Seite dagegen das Einschränken der Möglichkeiten auf wenige Substanzen. Für mein Dafürhalten ist es jedenfalls tröstlich, daß bei einigen interessanten Verläufen die sogenannten „Kleinen Mittel“ in eher schweren Fällen verschrieben wurden, wohingegen nach meiner Ansicht, und der anderer Kollegen, ein Polychrest weniger gute Resultate erzielt hätte. Meine Erfahrungen und Erkenntnisse waren mir sehr hilfreich und haben mich dahin gebracht, eine Methode des Studiums homöopathischer Mittel zu entwickeln,

die es mir erlaubt, bei der Verordnung präziser sein zu können. Ich arbeite immer ausgehend von der Voraussetzung, daß grundsätzlich jedes Mittel verschrieben werden kann,

ohne mich von Anfang an darauf zu beschränken, nur wenige Substanzen nutzen zu können.

Ich forsche noch weiter in diese Richtung und denke, daß ich noch einen langen Weg vor mir habe. Doch ich bin zufrieden mit den Ergebnissen, die ich erziele. Auch bestärkt es mich darin, weiter zu forschen und zu beobachten, daß viele Kollegen, die einigen meiner Ansichten folgen, sehr ermutigende Ergebnisse hervorbringen.

 

Frage: Dann bedeutet der Begriff „ kleine Mittel“ demnach eigentlich „nicht gut bekannte Mittel?“

Dr. M.M.: Genau! Das Problem ist, nach welcher Strategie man eigentlich vorgehen soll, wenn man im praktischen klinischen Alltag zu verordnen hat. Ausgehend von der Prämisse, daß tatsächlich alle Mittel effizient sind, müssen wir eine angemessene Forschungsmethode finden, ein Modell, das uns erlaubt, die Forschungsergebnisse geeignet auszuwerten. Ohne Zweifel ist die weitere Forschung sehr wichtig und auch hier haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

Ich meine, daß auch der beste praktische Versuch nicht die einzige Möglichkeit ist, gute Informationen über die Effizienz einer Sache zu erhalten. So habe ich in den letzten Jahren versucht, Hypothesen zu erstellen, die mir erlauben, Mittel aufgrund derjenigen Informationen zu verschreiben, die mir bis dato vorliegen. Denn wenn man auf die Prüfungsergebnisse aller Substanzen, die zur Auswahl stehen, warten würde, müßte man sicher weit länger leben, als einem möglich ist.

Ich meine, es ist in keiner Wissenschaft verboten, Hypothesen aufzustellen. Das wichtigste dabei ist, diese anhand von Ergebnissen zu belegen. Deswegen habe ich mich auch

immer bemüht, meine Fälle mit einem langen „follow-up“ zu versehen. Ich kann, denke ich, heute sagen, daß einige meiner Fälle meine Hypothesen stützen, weswegen ich in diese Richtung weiterarbeite.

Zur Zeit habe ich mehr als 1000 Fälle gesammelt, die mit den Worten der Patienten selbst dokumentiert sind. Alle diese Fälle weisen ein „follow-up“ von mindestens zwei Jahren auf und das Mittel, welches verwendet wurde, blieb bei jedem individuell immer das gleiche, ob bei chronischen oder bei akuten Erfordernissen. Praktisch habe ich in diesen Fällen nie das Mittel gewechselt, und die Ergebnisse waren sehr gut. Ein Großteil dieser Fälle wurde mit Hilfe der sogenannten „kleinen Mittel“ geheilt. Diese Fälle sind das Material, das ich in meinen Seminaren verwende, über die ich meine Bücher und Artikel schreibe, und woraus ich die Symptome abgrenze, die ich meinem Repertorium hinzufüge.

Selbstverständlich erziele ich nicht bei allen Patienten diese Ergebnisse. Das heißt, ich möchte nicht behaupten, daß unter allen Umständen und in jedem Fall nur ein einziges

Mittel verschrieben werden kann. Ich glaube nicht, daß mein Modell vollkommen ist, und vor allem glaube ich nicht, daß ich alle Patienten, die zu mir kommen, heilen kann.

 

Frage: Also gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen einem kleinen Mittel und einem „Polychrest“?

Dr. M.M.: „Ich glaube nicht, daß es einen Unterschied gibt - allenfalls bezüglich des Namens. Ich glaube, daß das, was wir „Polychrest“ nennen, eine sehr allgemeine Art von Wirkung auf den Organismus darstellt. Wenn Sie diese Auffassung zum Beispiel vom Standpunkt der Zellpathologie aus betrachten, verfügt unser Organismus im Grunde nur über sehr wenige Reaktionssysteme.

Und hauptsächlich deshalb sind wir der Ansicht, daß die sogenannten mentalen Symptome für die Erstellung einer Differentialdiagnose spezifischer sind als die somatischen Symptome.

Die Ausdrucksmöglichkeiten dessen, was wir Geist nennen, sind sehr viel deutlicher gegliedert und viel komplexer als diejenigen Symptome einer Entzündung oder eines Abszesses.

Ich bin der Ansicht, daß die Polychreste bis heute übermäßig angewendet worden sind.

Ich denke, daß eines der Hauptprobleme der Homöopathie darin liegt, daß wir nicht über ein gemeinsames Beobachtungssystem verfügen, und daß wir jede beliebige Form der Verschreibung eines homöopathischen Heilmittels „Homöopathie“ nennen.

Ich glaube nicht, daß die Dinge anders liegen. Für die Ausübung einer guten Homöopathie genügt es nicht, ein homöopathisches Heilmittel zu verschreiben. Ich finde, daß wir insbesondere heutzutage feststellen können, daß es viele unterschiedliche Arten gibt, Homöopathie zu praktizieren. Es gibt viele Arten, zu denken und die Ergebnisse zu analysieren, zu denen wir durch die Verschreibung eines homöopathischen Mittels kommen. Allem zugrunde liegt der homöopathische Gedanke mit dem Ähnlichkeitsgesetz, aber es ist sehr wichtig zu bestimmen, welche Ähnlichkeitsebene wir beim Erstellen einer Diagnose und beim Betrachten der erzielten Ergebnisse im Auge haben. Ich kann Dir ein Beispiel dafür anführen: Wenn Du bei einem Trauma Arnica verabreichst, erzielst Du fast immer ein gutes Ergebnis, und das ist dann eine gute Verordnung. Das bedeutet aber nicht, daß der Fall, den Du vor Dir hast, notwendigerweise ein gänzlicher Arnica-Fall ist: ein Fall nämlich, in dem Arnica außer auf das Trauma auch in komplexerer Weise auf tiefer liegende Symptome des Patienten wirken kann. Folglich ist Arnica in dieser Situation also eine gute Verordnung, wenn

unser Beobachtungsmuster, sagen wir, vordergründig ist.

In der Vergangenheit gestaltete sich das Konzept von Gesundheit, die Erwartungen der Ärzte und die Hoffnungen der Patienten sehr viel anders als heute, wobei wir uns aber

auch in der heutigen Zeit immer vergegenwärtigen sollten, was wir mit unserer homöopathischen Medizin erreichen können. Bei einer Epidemie beispielsweise sind wir bei fünfzig Patienten,  die wir am Tag untersuchen müssen, gezwungen, ein oberflächliches Muster anzuwenden; dies bedeutet jedoch nicht etwa, schlechte Arbeit zu leisten. Das Wichtigste

ist, zu wissen, was man denn eigentlich tut. Ich kenne viele Kollegen der Veterinärmedizin, die sehr gute Arbeit leisten, und die im Grunde nichts besser machen könnten bei einem Stall mit hundert Kühen, um die sie sich zu kümmern haben.

Die Frage ist dann aber eine völlig andere, wenn wir Zeit haben, mit unserem Patienten mehr in die Tiefe zu arbeiten. Und die Frage ist dann eine andere, wenn unsere Verordnung nicht wirksam war und wir vor einer schweren und komplexen Differentialdiagnose stehen.

Ich denke, daß unsere Kollegen in der Vergangenheit hauptsächlich mit einem Konzept von Gesundheit gearbeitet haben, das weniger komplex als das heutige war. Ich glaube, daß das, was wir Polychrest nennen, in Wirklichkeit eine sehr allgemeine Art und Weise ist, auf ein bestimmtes Mißbefinden einzugehen, eine Art Strategie, die vielen Substanzen gemeinsam ist, und von denen das sogenannte Polychrest die bekannteste Substanz der Homöopathie darstellt, aber nicht notwendigerweise die wichtigste oder die wirkungsvollste.

Oft müssen wir dort, wo Arnica nicht wirkt, Heilmittel wie Bellis perennis, Calendula, Millefolium, Erigeron und viele andere in Betracht ziehen. Zu meinen, daß die Differentialdiagnose auf der bloßen Tatsache beruht, daß der Patient mehr oder weniger blutet, oder daß das betroffene Gewebe vorwiegend Nerven- oder Muskelgewebe ist - so einfach ist die Sache nicht.

Im Falle von Lachesis zum Beispiel sind die Symptome, die wir für dieses Arzneimittel als charakteristisch betrachten, oft Symptome, die für alle Schlangen charakteristisch sind. Und nur einige davon sind wirklich charakteristisch für Lachesis, während andere es für Elaps sind oder für Naja oder für Vipera oder Crotalus oder Zincum phosphoricum.

Fakt ist, dass Lachesis oft aufgrund eines Reduktionsmodells und unter einer nur oberflächlichen Beobachtung der mit diesem Mittel behandelten Patienten angewandt worden ist. Im Laufe der Zeit haben nun Symptome in das Repertorium und die Materia Medica mit Symptomen Eingang gefunden, die von anderen Schlangen oder anderen korrelierenden Heilmitteln herrühren. Dies sind die „klein“ gebliebenen Mittel, die sich nicht, wie es bei Lachesis der Fall war, zu sehr aufgebläht haben. Ich denke, daß dieser Vorgang für alle sogenannten Polychreste der gleiche ist.

 

Frage: Dann sind Sie der Ansicht, daß Polychreste häufig deshalb verordnet werden, weil man sich angewöhnt hat, zunächst an diese großen Mittel zu denken?

Dr. M.M.: Ja, genau das denke ich, aber nicht nur das. Ich bin der Meinung, daß viele unserer Theorien -und ich betone ausdrücklich, daß es nur Theorien sind, und als solche angesehen werden müssen - oft mit einer Art Doktrin vermengt werden. Vor allem ist es nicht einfach, zu wissen, was Hahnemann wirklich dachte. Auf jeden Fall war ein genialer Geist wie der seine bis ans Ende seiner Tage fähig, das, woran er glaubte, auch zu erproben. Aus diesem Grund meine ich, daß jeder Begründer einer Bewegung der Initiator einer Denkrichtung ist, die in den nachfolgenden Jahren von seinen Schülern weiterentwickelt werden muß.

Nach meinem Eindruck dienen die Theorien, die wir aufstellen, oft zur Rechtfertigung unserer Mißerfolge, wo es doch viel einfacher wäre, zuzugeben, daß wir über unsere Arzneimittel tatsächlich noch so viel zu lernen haben. Vielleicht ist an einem schlechten Behandlungsergebnis nicht der viele Kaffee schuld, den der Patient trinkt, sondern die ungenaue Verordnung.

 

Frage: Wenn wir ein gut bekanntes Mittel nehmen, wie zum Beispiel „Pulsatilla“, dann haben wir bestimmte Gemütssymptome, die man gut erkennen kann. Finden wir unter den „kleinen“ Mitteln ebenfalls Charaktereigenschaften, die uns dabei helfen können, das Mittel dem Patienten zuzuordnen?

Dr. M.M.: Ganz gewiß! Ich bin der Meinung, daß jede Substanz ihre spezifischen Charakteristika hat. Die Tatsache, daß ich gern die Arzneien in „Familien“ erforsche, bedeutet ganz und gar nicht, dass ich es für unwesentlich erachtete, jede Arznei in ihrer Besonderheit zu unterscheiden. Das Gegenteil ist der Fall.

Ich denke, daß eine Familie von Heilmitteln durch die innerhalb dieser Familie bestehenden Analogien gekennzeichnet ist, und daß sich dann jedes einzelne Heilmittel durch seine besonderen Eigenschaften innerhalb dieser Familie unterscheidet.

Im Falle des Beispiels von Pulsatilla glaube ich, daß es ein Gemeinplatz ist, daß nur Pulsatilla so einfach zum Weinen führt und mit dem Trost Besserung eintritt. Diese Symptome treffen ohne Zweifel zu, aber sind sie wirklich so spezifisch, daß man sie nur Pulsatilla zuordnen kann?

Ich glaube nicht, daß das so ist. Meiner Erfahrung nach sind oft Symptome, die wir als key-notes eines Heilmittels ansehen, auch anderen, ähnlichen Heilmitteln eigen, während unter anderen Umständen einige key-notes wirklich nur für ein einziges Heilmittel spezifisch sind. Oft halten wir key-notes eines Polychrests für einzigartige Symptome, die aber auch Symptome eines kleinen Mittels sind.

Auch Mimosa oder Viola odorata oder Cobaltum nitricum haben dieselbe leichte Wirkung auf das Weinen und führen mit dem Trost Besserung herbei, und zwar mit einem Verhaltensmuster, das dem von Pulsatilla sehr ähnlich ist.

In jedem Fall glaube ich, daß jedes Arzneimittel sein eigenes charakteristisches Bild beinhaltet, sowohl bei denjenigen Symptomen, die wir als mentale Symptome bezeichnen, wie auch bei denen mehr allgemeiner Natur. Es ist eine Tatsache, daß in der Mehrheit der Fälle die weniger bekannten Mittel in den Arzneimittellehren und den Repertorien nicht mit einem klaren Bild davon erscheinen, was wir den „Geist“ eines Mittels nennen. Aber das ist nur deshalb so, weil sie nicht genügend erforscht worden sind. Es ist das Studium des Arzneimittels, das oft keinen ausreichend klaren ‘mind’ hat, und nicht etwa der Patient, der mit diesem Heilmittel behandelt werden kann. Das sollte uns zu denken geben.

Mein Ansatz ist, wie ich bereits ausgeführt habe, Ähnlichkeitshypothesen zwischen den verschiedenen Arzneimitteln aufzustellen und dabei möglichst zu verstehen, was für die Verschreibung eines Polychrests vorhanden sein muß. Wenn das, was meiner Meinung nach vorhanden sein müßte, um ein Polychrest zu verordnen, jedoch nicht vorhanden ist,

dann ist dies schon der Hinweis auf ein Mittel, das ihm ähnlich ist.

Danach bestätige ich solche Hypothesen durch erfolgreich behandelte Fälle und einem langen follow-up. Meine Informationen erhalte ich von den Patienten, die ich mit Erfolg behandele. Wenn ich bei mehreren Patienten die gleichen Symptome vorfinde oder Verhaltensmuster, die bei mehreren Personen vorliegen, die ich mit der betreffenden Substanz behandelt habe, meine ich, einen interessanten Teil des Bildes dieser Arznei offengelegt zu haben.

Ich glaube, daß keine medizinische Substanz für sich so präzise dargelegt werden kann wie es über das Geschehen eines erfolgreich behandelten Patienten der Fall ist.

Niemand von uns kann ein Arzneimittel besser kennen als der Patient selbst, der es genommen, und gute Ergebnisse damit erzielt hat. Dennoch scheint mir die am meisten verbreitete Tendenz dahin zu gehen, daß dem schriftlichen Inhalt der Arzneimittellehren größere Bedeutung zugemessen wird, anstatt auf das zu hören, was die Patienten uns sagen.

Das Interessante ist nämlich, daß der größte Teil unserer Bücher Kopien von Kopien anderer Bücher sind, und daß oft derjenige, der über ein bestimmtes Arzneimittel schreibt, dieses gar noch nie mit Erfolg verordnet hat. Ein anderer wichtiger Punkt ist, daß ich nicht glaube, daß die sogenannten mentalen Symptome wichtiger sind als die physischen Symptome.

Ich finde, daß es sehr wichtig ist, einen deutlichen Unterschied zwischen den Symptomen des Patienten und den Symptomen des Arzneimittels zu machen.

Es ist einleuchtend, daß jeder Mensch seine eigene, spezifische Persönlichkeit aufweist; genau so wie es einleuchtend ist, daß das beste Ergebnis, das man bei einer Therapie erzielen kann, ein Zustand nicht nur körperlichen Wohlbefindens ist. Aber das, was uns in die Lage versetzt, die spezifischen Charakteristika eines Arzneimittels zu erkennen, sind nicht immer und nicht ausschließlich die sogenannten mentalen Symptome. Die Beschreibung eines homöopathischen Arzneimittels, wie es aus einer Prüfung hervorgeht, ist nicht die Erklärung, wie das Heilmittel beschaffen ist, sondern nur ein Aspekt des Phänomens, wie diese Substanz mit dem Menschen interagiert. In der Durchführung einer Prüfung stehen wir einem Phänomen gegenüber, nämlich wie sich diese Substanz darstellt, wenn sie mit dem Menschen in Berührung kommt.

Bei einer Prüfung mit Nux vomica beobachet man logischerweise als erste Syptome solche, die den Verdauungsapparat belasten, ebenso logisch ist es bei einer Prüfung mit Anhalonium, zu beobachten, daß die ersten Symptome den mentalen Bereich betreffen. Das bedeutet aber nicht, dass Nux vomica keine mentalen Symptome hervorbrächte,

genauso wie es nicht bedeutet, dass Anhalonium keine physischen Symptome hätte. Es bedeutet lediglich, daß es Arzneimittel gibt, wie es auch Menschen gibt, die sich auf eine bestimmte Art und Weise darstellen und nach ihrem Vermögen ihre Symptome aufzeigen. Das Auftauchen eines bestimmten Bauchschmerzes bedeutet nicht weniger Leiden

als es eine Person mit einer bestimmten Form von Angstzuständen empfindet. Insbesondere kann ein bestimmter Bauchschmerz spezifischer sein als eine allgemeine Empfindung

von Angst. Meiner Meinung nach ist es für eine gute homöopathische Verordnung wichtig, folgendes zu erkennen: die Charakteristika, durch die das Arzneimittel sich darstellt.“

 

Frage: Verstehe ich Sie also richtig, das Sie z. B. Nux vomica aufgrund der physischen Symptome geben würden, ohne nach einem Gemütssymptom, wie beispielsweise „Reizbarkeit“, zu sehen?

Dr. M.M.: Das hängt vom Fall ab. Ich glaube, es ist wichtig, sich ein Bild von dem wirklich Wesentlichen eines Arzneimittels zu machen, um es erfolgreich zu verordnen. Es gibt Situationen, in denen es nicht leicht oder nicht möglich ist, die charakteristischen Symptome des ‘Gemüts’ von Nux vomica zu beobachten. Was ich für wichtig erachte, ist Klarheit darüber, ob zum Beispiel ein gewisser Typus Aggressivität das Spezifischste und Notwendigste für die erfolgreiche Verordnung von Nux vomica ist und wie tief man dabei gehen muß. Es gibt mindestens zwei Ebenen der Wahrnehmung dessen, was wir meinen, wenn wir Nux vomica sagen.

Es gibt die allgemeine Ebene, die wir von verschiedenen Autoren in den Arzneimittellehren beschrieben finden; jene Ebene, über die man mit Kollegen diskutieren kann und bei der man versucht, im Laufe der Zeit ein immer deutlicheres Bild des Mittels herauszuarbeiten, das uns einen Konsens darüber ermöglicht, was wir in der Homöopathie meinen, wenn wir über Nux vomica sprechen.

Dann gibt es eine andere, eine spezifischere und persönlichere Ebene, etwas, was zu der charakteristischen Art und Weise eines jeden einzelnen Homöopathen gehört, einen Nux vomica-Patienten zu erkennen.

Ein jeder von uns setzt sich auf eine absolut spezifische Weise zu seinen Patienten in Beziehung. Die Wahrnehmung unserer spezifischen Reaktion angesichts eines Nux vomica-Patienten ist keine Frage der Magie, sondern schlicht die Erkenntnis darüber, wie wir funktionieren. Das ist nicht übertragbar, es ist eine Analogsprache und als solche kann sie nicht reduziert werden auf etwas, was man niederschreiben kann oder über das man sprechen kann. Es ist eine einmalige und charakteristische Erfahrung für jeden einzelnen Homöopathen, dessen Wissen und Erkenntnis jedoch genauso wichtig ist wie die Kenntnis und Erkenntnis dessen, was wir in den besten Arzneimittellehren lesen.

 

Frage: Also stehen für Sie die Gemütssymptome -ich frage Sie noch einmal, weil ich diesen Punkt für sehr wichtig halte- nicht unbedingt an der Spitze, beim Repertorisieren?

Dr. M.M.: Nicht eigentlich. Die mentalen Symptome eines Patienten sind eine Sache, hinsichtlich derer ich eine Entwicklung und eine bestmögliche Form der Modifizierung erwarte.

Aber das bedeutet nicht, daß die mentalen Symptome dieses Patienten notwendigerweise die charakteristischsten Symptome des Arzneimittels sind, das ich in diesem Fall in Betracht ziehe. Viele Mittel haben nur deswegen keine charakteristischen mentalen Symptome, weil man sie nicht kennt. Andere Mittel haben keine charakteristischen mentalen Symptome, weil sie sich nicht in charakteristischer Weise durch mentale Symptome ausdrücken, sondern vielleicht durch eine charakteristische Form von Schmerz.

Etwas zu suchen, was nicht vorhanden ist, dient nur dazu, die Illusion zu vermitteln, ein Mittel zu verschreiben, das man zu kennen glaubt.

 

Frage: Wenn Sie auf ein Mittel wie z . B. „Alloxanum“ kommen, wie haben Sie es dann repertorisiert?

Dr. M.M.: Ich denke, daß es vor allem wichtig ist, zu klären, wie man das Repertorium nutzen kann. Es handelt sich um ein sehr nützliches, aber meiner Meinung nach obsoletes Instrument. Trotz der tätigen Bemühungen von Kollegen, die seit Jahren mit Leidenschaft in ihrem Beruf arbeiten, ist das Repertorium, so, wie es konzipiert worden ist, voller Ungenauigkeiten. Es ist wahr, daß dieses Instrument im Lauf der Zeit immer umfangreicher wird, weil immer mehr Daten über die Arzneimittel zur Verfügung stehen. Die Gefahr dabei ist, daß wir eines Tages eine ungeheure Menge Daten, aber wenige wirklich nützliche Informationen haben. Ich glaube, es ist wichtig, eine Synthese der wirklich wesentlichen Anschauungen vorzunehmen; genauso wichtig ist eine aufmerksame Bewertung der Symptome, die hinzukommen.

Ich verwende und betrachte das Repertorium in gleichem Maße wie auch alle anderen Bücher. Wenn Du einmal zurückdenkst, so sind wir ja dazu gekommen, ein Buch wie dieses Repertorium herzustellen, weil die Symptome aus den Arzneimittellehren nicht so ohne weiteres auffindbar sind. und nun, wo der Computer ein solch populäres Instrument geworden ist, ist es leichter möglich, präzisere Informationen zum Repertorium aus „Quellen“ zu beziehen, direkt aus den Büchern, und ich hoffe, in Zukunft vor allem aus erfolgreich behandelten klinischen Fällen.

Aber zurück zu Ihrer Frage. Dazu muß ich einige Auffassungen klarstellen. Es gibt Fälle, in denen Du soviel Glück haben kannst, daß Du eine beträchtliche Anzahl von deutlichen Symptomen für Alloxanum findest, und es kann sein, daß diese Symptome auch im Repertorium enthalten sind. Aber das geschieht sehr selten.

Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, eine Vorstellung davon zu haben, wie Alloxanum sich zeigen kann und welchen anderen Arzneimitteln es ähnlich sein kann. Beim Studium von Alloxanum bin ich zunächst zu der Ansicht gelangt, daß dieses Mittel sehr viel mit Sepia und mit Natrum muriaticum gemeinsam haben könnte. Von dieser Überlegung ausgehend versuche ich, wenn bei einer Repertorisation auch ein oder zwei Symptome von Alloxanum auftauchten und andere Symptome, die dieses Mittel nicht abdeckt, die aber für Natrium oder für Sepia vorliegen, gründlicher nachzuforschen. Wenn ich beim Patienten die Gesichtspunkte, die ich für charakteristisch und unerläßlich für die Verschreibung von Sepia oder Natrium halte, nicht finde, dann ziehe ich Alloxanum näher in Betracht, auch dann, wenn ich nur ganz wenige Symptome für dieses Mittel habe. Danach versuche ich, eine gründlichere Erforschung dieser Arznei vorzunehmen, um zu sehen, ob auch Symptome toxikologischer oder pharmakologischer Art vorliegen, die meine Vermutung untermauern könnten oder mir für den betreffenden Patienten irgendwelche Anregungen geben könnten.

Wenn die Verordnung Erfolg gebracht hat, dann kann ich dem Patienten viele direkte Fragen stellen, um eine immer genauere Vorstellung zu bekommen. Wenn es mir schließlich gelingt, mehr als einen Patienten erfolgreich zu behandeln, dann versuche ich zu verstehen, welche Aspekte diese Patienten gemein haben. Nur so kann ich diese Symptome in mein Repertorium aufnehmen, und wenn ich feststelle, daß es verläßliche Symptome sind, dann veröffentliche ich sie.

Ich glaube, daß es wichtig ist, das Repertorium auch im ausschließenden Sinne zu verwenden.

Ich suche einerseits das, was von einem Arzneimittel vorhanden ist, so wie ich auch dem Wichtigkeit beimesse, was von einem Arzneimittel eben nicht vorhanden ist. Aus diesem Grunde benutze ich sehr oft die Repertorien.

Wenn ein deutliches Symptom für ein wohlbekanntes homöopathisches Arzneimittel in einem Repertorium nicht enthalten ist, dann bedeutet das, daß dieses Arzneimittel das entsprechende Symptom wahrscheinlich nicht beinhaltet - dies trifft häufig für die Polychreste zu.

Wenn ein deutlich vorhandenes Symptom jedoch für ein wenig bekanntes Arzneimittel nicht notiert ist, dann ist dies nicht von so großer Bedeutung, weil dieses Mittel noch nicht genügend erforscht worden ist. Doch wenn ein kleines Mittel mit wenigen deutlichen Symptomen angezeigt ist, dann ist dies sehr von Nutzen.

 

Frage: Der wichtigste Punkt ist also immer, daß man die „Essenz „eines Mittels verstanden hat, bevor man es verordnet?

Dr. M.M.: Gewiß. Ich glaube nicht, daß diese Auffassung so ganz neu ist, seit Jahren versuchen fast alle Homöopathen, dies zu tun. Auch hier denke ich wieder, daß das Konzept von der „ Essenz“ sich auf das Beobachtungsmodell bezieht, das wir anwenden, insofern, als dieses Beobachtungsmodell auf mehr oder weniger tiefgehende Weise die Symptome, die wir beobachten, bewertet.

Es ist ein Bedürfnis des Menschen, der Wissenschaftler und der Ärzte, die Phänomene, die sie beobachten, zu klassifizieren; ich glaube nicht, daß dies ein Bedürfnis der Natur ist.

Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, daß oft die Darstellung von Konzepten als das „Wesen eines Heilmittels“ bedeutet, eine simplifizierende und unsynthetische Beschreibung dieser Substanz zu geben. Ein großer Reichtum der Homöopathie ist ihre genaue Beschreibung äusserst vieler möglicher Variablen im Hinblick auf ein gemeinsames Thema.

Aus diesem Grund bleibe ich bei der Überlegung, daß ich es für

wichtig halte, das Vorhandensein einer Art von „gemeinsamem Wesen“ bei einigen Heilmitteln zu bewerten, das, was ich eine „Familie“ von Heilmitteln nenne. Im Innern dieser Familie, glaube ich, ist es wichtig, das zu differenzieren, was Du das spezifischere Wesen einer jeden einzelnen Substanz nennst.

 

Frage: Wenn wir mit Mittelgruppen, wie z.B. den Spinnen-Mitteln arbeiten, dann wissen wir, daß es Unterschiede zwischen den verschiedenen Spinnen gibt. Gibt es aber auch so etwas wie einen gemeinsamen Nenner, der bei allen Mitgliedern dieser Gattung vorzufinden ist?

Dr. M.M.: Ja, das glaube ich. Genau das liegt meiner Auffassung von der „Heilmittelfamilie“ zugrunde. In den letzten Jahren arbeiten einige von uns Homöopathen zwar mit unterschiedlichen Vorstellungen, aber doch über ein ähnliches Konzept.

Ich glaube, daß gegenwärtig niemand von uns über eine Arbeitshypothese hinaus etwas Präziseres formulieren könnte, da wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen und es einiger Jahre klinischer Bestätigung bedarf, um diesen neuen Ideen einen Sinn zu geben. Darin bin ich sehr pragmatisch, und auch wenn ich gerne über neue Hypothesen arbeite, so halte ich doch eine Bestätigung der klinischen Daten für unerläßlich, vor allem innerhalb einer Medizin wie der unseren, wo es wirklich zu viele intellektuelle Spekulationen gibt.

Von meinem Standpunkt aus halte ich es für sehr nützlich, die Familien der Heilmittel als einen Ausgangspunkt für eine präzisere Differentialdiagnose zu betrachten. Ich wiederhole, daß es meiner Meinung nach ein Bedürfnis von uns ist, in irgend einer Weise die Realität, die uns umgibt, zu klassifizieren, und ich glaube, daß es unvermeidlich ist, unsere Behandlungsmöglichkeiten zu erweitern und zuverlässiger zu machen. Folglich wird das Bedürfnis, die Heilmittel auf der Grundlage ihrer möglichen Verwandtschaft in Gruppen zusammenzufassen, zu einer logischen Konsequenz; andernfalls sähen wir uns nämlich einer ungeheuren Menge Infragekommender und potentiell zu verschreibender Heilmittel gegenüber. Ich wiederhole noch einmal, daß das Grundproblem das Beobachtungsmodell ist, die Beschreibung dessen, was man als „ähnlich“ bewertet und definiert; andernfalls wird jede beliebige Klassifizierung in Familien möglich und verliert dadurch an Bedeutung. Ich habe den Eindruck, daß in vielen Situationen das vorherrschende Modell das „Zwiebelmodell“ ist, bei dem man oft den Fall durch Beifügung von Symptomen analysiert, indem man eine Art Verzeichnis von Symptomen erstellt, die zu guter letzt von der durch die Repertorisation indizierten Heilmittel abgedeckt werden müssen, wie auch immer diese aussehen.

Die Arbeit, die ich zu machen versuche, ist eine vertiefte Analyse dessen, was die wesentlichen und wirklich charakteristischen Züge einer jeden Gruppe der Substanzen ausmacht, und dann, weiter in die Tiefe gehend, was für jedes einzelne Mittel spezifisch zu sein scheint. Eine Betrachtensweise dieser Art funktioniert nicht, wenn man algebraisch einfach die Symptome, die man ermittelt, addiert; man muß vielmehr versuchen festzustellen, welche Beziehung zwischen den Symptomen besteht, wie sich der Patient an sie anpasst und welche Heilmittel ihm geholfen haben. Wie schon gesagt stehe ich erst am Anfang.

Ich glaube, daß ich in den letzten fünfzehn Jahren eine ganz gute Arbeit über Dutzende Familien von Heilmitteln geleistet habe, aber es liegt noch ein weiter Weg vor mir, und ich glaube nicht, daß ich das Ziel alleine erreichen kann. Glücklicherweise hilft mir eine Gruppe fähiger Kollegen. Wenn wir auf Ihr Beispiel der Spinnen zurückkommen, so gibt es dort viele „Hintergrundthemen“, von denen ich glaube, daß sie charakteristisch für die Familie der Spinnen sind. Innerhalb derselben schaue ich dann, was wirklich spezifisch für jedes einzelne dieser Spinnenmittel ist. Ich beachte, daß nicht nur die Spinnen zu dieser Familie gehören.

Zum Beispiel haben auch andere Heilmittel, vom physischen Standpunkt aus, das heißt von der Substanz her betrachtet, aus der das Heilmittel hergestellt wird, überhaupt keine Ähnlichkeit mit Spinnen, aber sie weisen dennoch eine interessante Affinität zu dem auf, was die „gemeinsamen Hintergrundthemen“ anbelangt. Abwehr- und Anpassungsstrategien, Grundlagen der Persönlichkeit, Art der Symptome.

Aus diesem Grund ziehe ich bei meiner Klassifizierung in Familien auch andere Heilmittel mit ein, die zwar zu anderen Reichen oder verschiedenartigen botanischen Klassen gehören, aber unter dem Gesichtspunkt der homöopathischen Symptomatologie sehr ähnlich sind.

Zum Beispiel glaube ich nicht, daß alle innerhalb einer bestimmten botanischen Familie vorhandenen Heilmittel sich wirklich ähnlich sind. Nach meiner Meinung trifft das für einige zu, wohingegen andere überhaupt keine Ähnlichkeit aufweisen, wieder andere scheinen sich ähnlich zu sein, aber lediglich an der Oberfläche.

Um Dir ein Beispiel zu geben: in die Familien der Schlangen beziehe ich Heilmittel wie „Zincum phosphoricum“ oder „Cimicifuga“ ein, zur Familie der Nachtschattengewächse zähle ich auch Heilmittel wie  „Lyssinum“ oder „Gallicum Acidum“.

Natürlich kann man darüber diskutieren, warum wir die Familie, in der sich Zincum phosphoricum befindet, die Familie der „Schlangen“ nennen: es handelt sich lediglich darum, einer Gruppe von Substanzen, in der eines der bekanntesten Heilmittel unter homöopathischem Gesichtspunkt Lachesis muta ist, einen Namen zu geben.

Man könnte sie genau so gut Familie „Nummer eins“ nennen, oder ihr jeden anderen beliebigen Namen geben. Auch in anderen botanischen Familien gibt es Heilmittel, die meiner Ansicht nach unter homöopathischem Gesichtspunkt eine deutliche Affinität zueinander haben.

Tanacetum zum Beispiel halte ich für verwandter mit anderen Heilmitteln, die unter die botanische Familie der Kompositen oder Asteracae eingeordnet sind. In der Tat scheint es mir dem Stramonium sehr viel ähnlicher zu sein als der Chamomilla. Ich könnte Dir viele Bespiele dieser Art nennen.

 

Frage: Manchmal ist es schwierig, zwischen den Mitteln zu unterscheiden. Wäre es vielleicht eine Möglichkeit, zunächst eine Mittelgruppe zu bestimmen, um dann darüber nachzudenken, welche der zu dieser Gruppe zählenden Arzneien dann am geeignetesten zu sein scheint?

Dr. M.M.: Ich kann Dir ein Beispiel im übertragenen Sinn nennen. Wenn Du ein Sternbild beobachtest, dann beschließt Du, eine gemeinsam von einigen Sternen gebildete Figur

zu betrachten. Ich denke nicht, daß wir definieren können, wofür eine Arznei steht, wenn wir dies auf der Basis nur eines einzigen Themas oder eines einzigen Symptoms versuchen - d.h. auf unser Beispiel angewandt, indem wir nur einen einzigen Stern beobachten. Hering selbst sprach von einem Dreifuß, aber ich glaube, daß es sich dabei nur um ein Beispiel im symbolischen Sinne handelt, weil es nicht immer ausreicht, nur drei Hintergrundkonzepte zu betrachten, um ein Arzneimittel, und oft noch weniger eine homöopathische Familie genau zu bestimmen. Wie bei einem Sternbild oft drei Sterne auch nicht genügen, um es zu bestimmen.

Es ist ein guter Ausgangspunkt, einen Stern wiederzuerkennen, aber ohne die anderen Sterne hast Du nur den Teil eines Bildes, das noch genauer bestimmt werden muß.

Es wird oft zu einem Gemeinplatz anzunehmen, daß das Gefühl der Verlassenheit ein typisches Problem nur von Lachesis sei. Viele andere Mittel haben ein ähnliches Problem, und alle Schlangen haben dasselbe Problem, aber auf eine der Lachesis ähnlicheren Weise als es z. B. das Gefühl der Verlassenheit bei Hura brasiliensis ist.

 

Frage: Gibt es gemeinsame Symptome, wie „Eifersucht“ oder „Geschwätzigkeit“, die sich durch alle Schlangen-Mittel ziehen?

Dr. M.M.: Ja. Ich denke, es ist wichtig, von einigen dieser Beobachtungen auszugehen, um sich eine genauere Vorstellung von dem Patienten und dem Mittel zu machen, das ihm helfen kann. Um zum von Ihnen angeführten Beispiel zurückzukehren, so glaube ich, daß Eifersucht und Geschwätzigkeit wichtige Symptome im Verhalten vieler Schlangen sind. Aber wenn wir bei diesem Beispiel bleiben, dann ist die Geschwätzigkeit der von den „Crotaliden“ herrührenden Heilmittel sehr viel anders als die der „Elapiden“. Während die Crotaliden im allgemeinen eher egozentrisch sind, treten die Elapiden oft mit einer eher unsicheren Persönlichkeit auf. Innerhalb der Elapiden unterscheiden sich dann Naja und Elaps auch noch einmal im Hinblick auf die Art, wie sie die jeweilige Unsicherheit zum Ausdruck bringen.

Oft kann man Elaps mit Mitteln verwechseln, die für ihre offensichtliche Schüchternheit bekannt sind wie etwa Pulsatilla. Naja kann sehr oft mit den für Silicea typischen Symptomen auftreten. Nichtsdestotrotz haben alle aus Schlangengift hergestellten homöopathischen Mittel viele andere Symptome unbedingt gemeinsam, aber ich halte es für einen schweren Irrtum, Lachesis als Paradigma für alle anderen Schlangen anzusehen.

Lachesis ist innerhalb seiner Familie ein ganz eigenes Tier: es mag Ihnen zum Beispiel genügen zu beachten, daß es „stumm“ heißt, weil es nicht wie die anderen Crotaliden die Klapper hat, obwohl es ein Crotalide ist und sein Verhalten sehr viel aggressiver ist als das der Mehrzahl der Schlangen, die wir in der Homöopathie verwenden.

Entsprechend erscheinen auch die Patienten, denen dieses Heilmittel zuträglich ist, im allgemeinen als sehr egozentrisch und aggressiv, oft mit starken Machtproblemen, wie Du es bei Elaps überhaupt nicht siehst.

Trotzdem sind viele Symptome von Lachesis aber Symptome, die alle Schlangen aufweisen, die wir verwenden, mit dem Unterschied jedoch, daß viele dieser Symptome für diese nicht genügend bekannt sind; nicht etwa, weil sie nicht vorhanden wären, sondern einzig deshalb, weil wir nicht genügend Informationen über die anderen Schlangen haben.

Zum Beispiel haben auf oberflächlicherer Ebene alle Schlangen-Patienten mehr oder weniger die gleichen Probleme beim Schlucken, das gleiche Gefühl der Einengung, ähnliche Gefäßerkrankungen und Gerinnungsstörungen sowie viele andere Affinitäten.

 

Frage: Benutzen Sie auch Hinweise oder Verhaltensweisen lebender Schlangen, um es auf die Mittel, mit denen Sie arbeiten, zu übertragen?

Dr. M.M.: Ich halte es für sehr wichtig, nicht nur im speziellen Fall der Schlangen, Informationen ausserhalb unserer homöopathischen Literatur zu sammeln.

Ich glaube, daß die Prüfung nicht die einzige Möglichkeit ist, um zu einer Vorstellung davon zu gelangen, welche Beziehung zwischen einer bestimmten Substanz und dem Menschen oder den Tieren besteht.

Ich halte die Prüfungen für eine Art äußerst nützlicher Forschung , die unerläßlich ist, bei der Erforschung von Symptomen, wie wir es in der Homöopathie machen. Aber ich glaube auch, daß jede gute Prüfung bis zur klinischen Bestätigung der Symptome, die sie hervorgebracht hat, eben nur eine Prüfung bleibt. Es scheint mir logisch, daß eine beliebige Substanz nicht als „Heilmittel“ angesehen werden kann, solange sie nicht mit guten Ergebnissen in der Klinik angewendet worden ist.

 

Meiner Ansicht nach ist die Prüfung ein „Gesichtspunkt“, ein grundlegender Gesichtspunkt für den Homöopathen, aber ich persönlich ziehe es vor, nicht dabei stehenzubleiben.

Nicht zufällig sind die ersten Prüfungen homöopathischer Arzneimitteln fast alle von bereits vorhandenen Vorkenntnissen über die betreffende Substanz ausgegangen. Und diese Kenntnisse kamen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten. Die gedankliche Vorstellung, und manchmal auch die Intuition, die zu der Vermutung führt, daß eine bestimmte Substanz zu einem Heilmittel werden könnte, entsprang aus Kenntnissen der Toxikologie und Pharmakologie, aus der Anwendung von Heilpflanzen oder verschiedenen Medizinen schon in der Antike - aus der Tradition, manchmal aus Mythen, dem Volksglauben oder anthropologisch zu bewertenden Phänomenen. Im Falle der Tarantula zum Beispiel hat man jahrhundertelang geglaubt, daß eine bestimmte Art von Krankheit, Choreomanie (Tanzwut) genannt, durch das Gift einer Spinne verursacht würde, und daß diese Krankheit nur durch ein bestimmtes Ritual geheilt werden könne, das hauptsächlich aus einer bestimmten Art von Musik bestand. Die Quellen, aus denen wir unser Material entnommen haben, sind äußerst unterschiedlicher Natur, und es ist ganz und gar nicht einfach, eine plausible Erklärung für die Bedeutung dieser Beziehung zwischen Mensch und Natur zu geben, ohne

in Diskussionen magischer oder philosophischer Natur hineinzugeraten, die heute leider sehr weit entfernt von der akademischen medizinischen Wissenschaft zu sein scheinen.

Am Anfang meiner Untersuchungen war ich praktisch gezwungen, außerhalb unserer homöopathischen Literatur zu forschen. Ich empfand das Bedürfnis, mehr über die Arzneimittel zu erfahren, die nicht ausreichend experimentell erprobt waren und infolgedessen in der Klinik nicht verwendet wurden. Zu meiner großen Überraschung habe ich festgestellt,

daß es eine „Kohärenz“ in den unterschiedlichen „Beschreibungen“ gibt, die der Mensch von den verschiedenen Substanzen, die wir als Heilmittel verwenden, geliefert hat. Es ist faszinierend zu sehen, wie wir das, was ich die „Hintergrundthemen“ eines jeden Heilmittels nenne, in der Toxikologie, in der Pharmakologie, in der traditionellen Anwendung, ja sogar in den Volksmythen wiederfinden können.

Der Mensch hat versucht, seine Beziehung zur Natur, in der er lebt, auf die unterschiedlichsten Arten zu beschreiben -von der Poesie bis zur wissenschaftlichen Forschung- und oft treffen am Ende dieselben Auffassungen wieder zusammen. Das ist der Zusammenhang, den ich suche, wenn ich ein homöopathisches Arzneimittel erforsche.

Jede Substanz muß, um in unseren Augen als solche zu gelten, in einer Art „Struktur“ aufgebaut sein. Diese Struktur und die Umwelt, die sie umgibt, beeinflussen sich gegenseitig auf dynamische Weise vermittels einer Reihe von Strategien, die angewandt werden, um diese Substanz, so wie sie ist, zu erhalten. Die Homöopathie mißt den endogenen Mechanismen für ein System, die dazu dienen, dieses System im bestmöglichen Gleichgewicht zu halten, eine vorrangige Bedeutung zu. Ein gutes Heilmittel stimuliert diese Mechanismen und wir sagen, daß es „heilt“. Die Erforschung dieser Strategien in der Physiologie einer Substanz scheint mir den Strategien, die in der Pathologie eines Systems angewandt werden, das mit dieser Substanz geheilt wird, sehr ähnlich zu sein.

Im Grunde sind genau das die Phänomene, die wir während einer Arzneimittelprüfung und während der klinischen Anwendung beobachten. Unser Problem, auch angesichts einer gut durchgeführten Prüfung, ist immer der Versuch, zu verstehen, was wirklich wichtig ist bei der Betrachtung, sonst bleibt auch die beste Arzneimittelprüfung nichts anderes als eine Auflistung von Symptomen, ohne jede Logik, ohne jede Organisation und ohne Seele. Auf dasselbe Problem stoßen wir angesichts einer ähnlichen Liste von Symptomen, die wir durch die Klinik bestätigt finden können.

Das große Problem bei den Polychresten ist, die Untersuchung von tausenden von Symptomen vorzunehmen und eine vernünftige Synthese herzustellen. Im Falle der sogenannten „kleinen Heilmittel“ ist das große Problem genau umgekehrt. Mein Untersuchungsmodell beruht auf einer vertieften und erweiterten Erforschung der Substanzen, die wir für die Herstellung eines homöopathischen Heilmittels verwenden.

Natürlich messe ich der Tatsache, daß die Symptome der Prüfungen durch die Klinik bestätigt werden, allergrößte Wichtigkeit bei, aber ich suche immer womöglich auch nach Informationen außerhalb der Homöopathie. Meine Absicht ist es, zu einer Synthese zu gelangen, die mir entweder hilft, die Vielfalt an nutzlosem Material bei den Polychresten

zu reduzieren, oder die Kenntnisse über die weniger bekannten Heilmittel zu erweitern und zu präzisieren.

Ich möchte nochmals unterstreichen, daß am Ende dieses Prozesses die Bestätigung dieser Hypothesen durch eine beträchtliche Anzahl erfolgreich behandelter klinischer Fälle stehen muß. Andernfalls wage ich nicht, von einem Heilmittel zu sprechen und nehme auch keine Ergänzungen zu meinem Repertorium vor.

 

Frage: Könnte es ein Hinweis für die Richtigkeit des Mittels sein, wenn jemand eine auffällige Abneigung, oder umgekehrt, eine starke Sympathie für Schlangen oder Spinnen aufweist?

Dr. M.M.: Das glaube ich eigentlich nicht. Ich halte das für einen sehr oberflächlichen Ansatz. Es stimmt zwar, daß ein Patient, der gut auf ein Arzneimittel reagiert, das von einer Spinne stammt, eine enge Beziehung zu diesem Tier hat, aber das trifft auch für viele andere Heilmittel zu.

Ich glaube, Hahnemann hatte Recht, als er gegen die oberflächliche und ungeeignete Verwendung der „Kennzeichnungen“ zu Felde zog, wie sie zu seiner Zeit üblich war. Aber bis heute scheinen sich die Dinge leider nicht sehr geändert zu haben.

Ich persönlich meine, daß die analoge Beziehung zwischen dem Menschen und der Natur, in der er lebt, von wesentlicher Bedeutung ist, sonst könnten wir uns nicht erklären, wie es möglich war, den therapeutischen Nutzen so vieler Pflanzen zu kennen, ohne irgendwelche Kenntnisse von Chemie oder Pharmakologie zu haben. Heute leben wir in einem Zeitalter der Wiederentdeckung und der Aufwertung der Bedeutung von Analogien, die ich persönlich ohne Einschränkung teile. Aber eine Analogbeziehung ist eine Erfahrung, per definitionem ist es etwas, das man mit Worten nicht beschreiben kann, ohne daß es in erschreckendem Umfang an Bedeutung verlöre. Es ist kein Zufall, daß die Kulturen, die sich auf eine analoge und „magische“ Annäherung an die Natur stützen, diese Kenntnisse überliefert haben, ohne sich der Schriftform zu bedienen, sondern vielmehr der Verwendung von Symbolen den Vorzug gaben. Ich glaube, daß es sehr riskant ist, den Begriff der Kennzeichnung auf dermaßen banale Beziehungen zu reduzieren.

 

Frage: Es gibt viele gut bekannte Mittel, die in bestimmten Fällen ziemlich zuverlässig helfen - Arnica bei Verletzungen, Cantharis bei Sonnenbrand, Apis bei Bienenstichen usw.

Gibt es Beschwerden, bei denen man „kleine“ oder unbekannte Mittel mit derselben Wirksamkeit einsetzen könnte?

Dr. M.M.: Das Beispiel, das Sie anführen, bezieht sich auf die akute und symptomatische Anwendung einiger Arzneimittel für einige Beschwerden, die wir meiner Meinung nach nicht als Krankheiten bezeichnen können. Außerdem beschäftigt sich der homöopathische Ansatz per definitionem mit den Kranken in ihrer komplexen Gesamtheit. Dessen ungeachtet gibt es verschiedene, wenig bekannte Arzneimittel, die ich in akuten und sehr genau beschriebenen Situationen für wirkungsvoll halte. Mir kommt Bellis perennis in den Sinn, das ich bei Brüchen oder Eingriffen am Uterus, auch bei Tieren, mit besseren Ergebnissen einsetze

als Arnica. Phellandrium und Medusa, um die Milchproduktion zu stimulieren.

Buthus australis bei akuten Lebensmittelhepatitiden und gleichzeitigem Ikterus.

Pituitaria anterioris bei beginnenden Nickelallergien.

Chininum sulphuricum in der Malariaprophylaxe. Und viele andere, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich stets eher zurückhaltend bin, mit der Nennung von Beispielen dieser Art.

 

Frage: Behandeln Sie Hauterkrankungen, wie z.B. Neurodermitis, ebenfalls mit kleinen Mitteln?

Dr. M.M.: Ich halte die Unterscheidung zwischen einem Polychrest und einem weniger bekannten Heilmittel für sinnlos, sowohl unter einem mehr theoretischen Gesichtspunkt als auch unter dem Aspekt meiner täglichen Praxis; es handelt sich hier um eine rein numerische Frage. Vielleicht scheint es Ihnen selbstverständlich, aber ich suche immer dasjenige homöopathische Arzneimittel, das mir am geeignetesten erscheint. Ich habe die Angewohnheit, jedes Jahr eine Überprüfung der Mittel vorzunehmen, die ich am häufigsten verschreibe, und natürlich gibt es Unterschiede auf der Grundlage dessen, was ich untersuche und besser zu kennen glaube. Im wesentlichen sind mehr als 70% meiner Verschreibungen keine Polychreste, und die Mehrheit der Patienten, die ich behandele, leidet unter schweren chronischen Krankheiten.

 

Frage: Welche Bedeutung messen Sie Symptomen zu, die auf der Haut erscheinen, z.B. „blutend, nach Kratzen“ oder „Absonderungen, gelb, honigartig“?

Haben diese Symptome Gewicht, oder beachten Sie sie weniger, weil sie auf der Haut erscheinen?

Dr. M.M.: Ich glaube, daß alle Symptome potentiell wichtig sind, auch solche, die noch nicht im Repertorium enthalten sind, da sie ausgezeichnete Informationen für eventuelle Erweiterungen desselben darstellen, wenn sie klinisch bestätigt sind.

Die Bewertung eines Symptoms der Haut als weniger wichtig gegenüber einem tiefer liegenden Symptom ist etwas, mit dem ich nicht einverstanden bin.

Die „Tiefe“, mit der Sie ein Symptom bewerten, ist lediglich eine Frage des Beobachtungsmusters, das Sie anwenden. Offensichtlich ist es weniger schwerwiegend, an Juckreiz zu leiden als an einer Depression,

aber es gibt zahlreiche Fälle, in denen ein Symptom auf der Haut das einzig mögliche sichtbare Anzeichen für ein Leiden bei einem Menschen ist. Wie tiefliegend dieses Leiden ist, ist nicht so einfach und unmittelbar zu bewerten. Und oft, auch nach mehr als einer Konsultation, gibt es Dinge, die nicht zutage treten, und das kann vielerlei Gründe haben. Das geht von der Beziehung zum Arzt bis hin zur Typologie dieses bestimmten Patienten, dem vielleicht die Worte fehlen, um sein „Übel“ zu beschreiben. Vor allem, wenn Du kleine Kinder, Tiere oder Patienten behandelst, bei denen sich sehr früh ein großes Trauma ereignet hat,

zu einem Zeitpunkt nämlich, an dem es nicht möglich ist, verbal auszudrücken, was passiert, zu einem Zeitpunkt, an dem das Bewußtsein nicht in der Lage ist, etwas anderes herauszuarbeiten -  dann kann ein Symptom der Haut eine sehr großes Gewicht haben.

Die Charakteristika eines bestimmten Symptoms auf der Haut können bei der Hervorbringung von Symptomen, die ein komplexeres Leiden des Systems ausdrücken, sehr hilfreich sein und sind eben nicht nur das oberflächliche Bild eines isolierten Symptoms. Ich glaube aber trotzdem, daß dies sehr schwer zu verallgemeinern ist, jeder Fall ist eine Geschichte für sich.

 

Frage: Was ist der wichtigste Punkt, den Sie während Ihrer Praxisarbeit lernen mußten?

Dr. M.M.: Ich glaube, daß ich dem Studium der Homöopathie zuviel Bedeutung beigemessen habe in bezug auf die Zeit, die ich dazu aufgewendet habe, um mich hinsichtlich der Beziehung zu meinen Patienten auszubilden. Gewiß zwingt mich die Leidenschaft für die Medizin und die Homöopathie jeden Tag zur Konfrontation mit meiner eigenen Unwissenheit. Angesichts dieses Fasses ohne Boden scheint das, was ich

lerne und zu kennen glaube, nie genug zu sein. Im Laufe der Zeit denke ich anders über meine Mißerfolge, und meiner Meinung nach ist es nicht möglich, ein ganzes Leben lang zu meinen, es handele sich nur um

die Frage, das „beste Arznei-mittel“ zu kennen, und einfach nur noch mehr lernen zu müssen.

In der Geschichte der Menschheit bis heute hat es so viele unterschiedliche Auffassungen von der Medizin und der Kunst des Heilens gegeben, und noch viele weitere werden dazukommen. Der einzige gemeinsame Nenner all dieser Arten von Medizin, die oft Kriterien aufweisen, die sich in augenscheinlichem Gegensatz zueinander befinden, ist die Tatsache, daß es da jemanden gibt, der um Hilfe bittet, und einen anderen,

der glaubt, ihm diese Hilfe geben zu können. Was zwischen diesen beiden Personen passiert, ist etwas sehr Komplexes, das wir noch nicht erforscht haben, und das meiner Meinung nach bis aufs Letzte sehr schwer

zu verstehen ist. Nach meiner Ansicht hat sich die Homöopathie niemals ausreichend für dieses Problem interessiert, und auch heute noch, zweihundert Jahre nach ihrer Entstehung, und ein Jahrhundert nach den sonstigen grundlegenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Medizin und Psychologie scheint es immer noch so, als wäre das Höchste an Wissenschaftlichkeit bei unseren Forschungen, zu überprüfen, ob die Arzneimittel auf isoliertes Gewebe wirken oder ob es möglich ist, dieselben Kriterien der statistischen Untersuchung anzuwenden wie die konventionelle Medizin.

Ich glaube, wir müssen hier noch sehr viel mehr tun und uns wirklich einem ernsthafteren und wissenschaftlicheren epistemologischen Modell zuwenden.

Was ich in all den Jahren gelernt habe ist, daß es zu vieles gibt, was ich nicht weiß, und daß ich nicht alle Patienten heilen kann, die mich um Hilfe bitten. Anfangs hat mich das sehr deprimiert, jetzt empfinde ich

das mehr als einen Anreiz, weiterzumachen, ohne zu denken, einfach nur mehr lernen zu müssen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht um das, was ich nicht wußte, jetzt akzeptiere ich mit weniger Unbehagen,

daß ich trotz allem mein ganzes Leben lang vor einem Geheimnis stehen werde.

Rainer Ginolas: Dr. Mangialavori, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

[Ernst Trebin]

Über den Wert der kleinen Mittel

 Der liebe Gott hat uns mit der Homöopathie ein großes Geschenk gemacht, uns aber gleichzeitig viel Mühe, Fleiß und Geduld auferlegt, wenn wir sie erfolgreich nutzen wollen. Nach langer Ausübung der Methode finde ich heute das Heil meistens in kombinierten Arzneien, die in der Gegenwart relativ wenig in Gebrauch sind. Es sind dies komplette Salze, zu denen ich über das Zusammenfügen ihrer einzelnen Bestandteile finde. Als Beispiel sei hier Calcium phosphoricum genannt, das man sich erarbeiten kann aus einem hohen Vorkommen von Calcium carbonicum und Phosphor bzw. Acidum phosphoricum in der Symptomenauswertung, das als eigenständige Arznei dabei aber eher unterrepräsentiert ist. Und bei der Suche nach diesen Arzneien helfen mir miasmatische Überlegungen, die ein Fundament für meine Entscheidung bedeuten.

Nicht wenige meiner Patienten offenbaren bei der Anamnese eine Vielzahl konstitutioneller Schwächen, haben darüber hinaus schwerwiegende biographische Erfahrungen und Traumatisierungen erlebt und können auf erhebliche genetische Belastungen in der Familienanamnese verweisen. So kommt es nicht selten vor, dass die Repertorisation, d. h. die strukturierte Auswertung ihrer Symptomendetails, ein diffuses Potpourrie ergibt, aus dem heraus zunächst überhaupt keine sichere Arzneimittelwahl zu treffen ist. Und so muss man die Behandlung eben dort beginnen, wo man glaubt, den Hebel ansetzen zu können, muss man bereit sein, je nach Verlauf die Arzneimittelwahl abzuändern, um schließlich mit Geduld und Glück zu einer nachhaltigen Hilfe für den Patienten zu kommen. Meist gelingt dies auch, setzt aber voraus, dass der Patient den Weg mitgeht und nicht gleich die Flinte ins Korn wirft, wenn die ersten Ansätze versagen sollten.

So ging es auch mit einer Patientin, die heute 52 Jahre alt ist und vor gut sechs Jahren in meine Behandlung kam. Sie ist in einem anspruchsvollen akademischen Beruf tätig und berichtete bei der Anamnese über ihre psychische Not, die schon 18 Jahre lang durch viele Ängste gekennzeichnet sei: Angst vor unheilbaren Krankheiten, Krebs oder Tod.

Nicht nur untertags sei die Angst ihr ständiger Begleiter, sie suche sie auch im Schlaf auf. Seit einem halben Jahr schrecke sie nachts hoch, leide unter Luftnot und glaube, ihre

letzte Stunde sei gekommen. Dabei rase das Herz und ihr erscheinen die Träume wie wahr, nachdem sie erwacht ist.

An körperlichen Erscheinungen sind wiederholt eitrige, bis fast zur Abszessbildung gehende Tonsillitiden zu vermerken sowie eine ausgeprägte Gesichtsneuralgie, die offenbar

vom linken Kiefergelenk ausgeht. Hinzu kommen noch rechtsseitige Schulterschmerzen, Kopfschmerzen bei Wetterwechsel, ein leichtes Gebärmuttermyom und eine Anfälligkeit

für Blasenentzündungen als Folge kalter Füße.

Sie ist das einzige Kind ihrer Eltern und ihre Jugend war geprägt von viel Angst. Einerseits war ihre Mutter aufgrund ihrer eigenen Biographie extrem labil, schüttete ihr Herz der Tochter aus und machte sie zu ihrer wichtigsten Vertrauensperson, drohte andererseits immer wieder mit Suizid, wodurch meine Patientin in eine sehr verantwortungsvolle Rolle

für ihre Mutter gedrängt wurde. Anderseits war der Vater sehr dominant, achtete streng auf gute Schulleistungen, war auf Kontrolle bedacht (und fürchtete Einflüsse der Studentenrevolte von 1968 auf seine Tochter), dirigierte sie auch in ihren persönlichen Beziehungen und lenkte ihren beruflichen Werdegang.

Eine erste Liebe mit 18 Jahren galt einem Priester, wurde aber von den Eltern rasch vereitelt - was man ihnen aber nicht verdenken kann. Auf Druck der Eltern kam auch ihre erste Ehe zustande, die jedoch zum Scheitern verurteilt war. Und schließlich schürte der plötzliche Herztod des Vaters ihre Ängste noch weiter.

Ihre körperliche Konstitution beschrieb sie als eher verfroren und wärmebedürftig, aber mit der Tendenz, die pralle Sonne zu vermeiden. Sie ist von unauffälligem körperlichen Habitus, in ihrem Auftreten fein, höflich und liebenswürdig und in ihren Ansprüchen an den Therapeuten durchaus bescheiden und geduldig. Ihr Selbstvertrauen ist nicht so groß und später kamen im Verlauf der Behandlung, als ihr ein anspruchsvoller Posten angeboten wurde, Zeichen von Scheu und mangelndem Selbstbewusstsein zu Tage.

Ich will hier keine tabellarische Symptomauswertung vorstellen, wohl aber den leitenden Symptomen die wichtigsten Arzneien gegenüberstellen:

Der großen Krankheitsfurcht entsprechen Arsen und Phosphor, aber auch Carcinosin. Unter der Rubrik des Traumes vom bevorstehenden Tod finden sich Kalium carbonicum

und Silicea. Nach dem Erwachen wahr erscheinende Träume sind Natrium carbonicum und Natrium muriaticum zuzuschreiben ebenso wie die Liebe zu einer unerreichbaren

Person (in Gestalt des Priesters). Die eitrige Tonsillitis ist von mehreren Arzneien abgedeckt, aber auch hier denkt man gerne an Silicea ebenso wie bei der Krankheitsanfälligkeit durch Abkühlung der Füße. Wiederkehrende Blasenentzündungen sind sykotisch, hier gebe ich gerne Arzneien wie Medorrhinum, Thuja ebenso wie alle Natrium-Salze. Die unangemessene Belastung mit Verantwortung bei jungen Menschen lenkt unser Interesse auf Carcinosin. Und schließlich ihre Wesensart: sie ließe sich durchaus auch mit Silicea

oder Phosphor in Übereinstimmung bringen. Schmerzen im Bereich des linken Kiefergelenkes konnte ich bisher öfter mit Thuja bereinigen.

Ein vorbehandelnder Kollege hatte schon Carcinosin, Medorrhinum und Arsenicum album gegeben und hatte damit auch zeitweise Erfolg. Für mich bot sich nun nach der Neuaufnahme des Falles ein buntes Bild, aber dennoch kein uferloses Angebot. Ich ließ mich zunächst leiten von ihrer Biographie, in der väterliche Dominanz und frühe Verantwortungsübernahme für die Mutter, was man auch bei Parenterifizierung nennt, vorherrschten. Die leitenden Arzneien sind für mich hier Carcinosin und die korrespondierenden Kalium-Salze, und so wählte ich zunächst Kalium phosphoricum aus, das ich im Wechsel mit Carcinosin gab.

Der Beginn war zunächst erfreulich, aber der Fortschritt stagnierte bald und ich musste weiter suchen. Ich probierte noch andere Kali-Salze aus wie Kalium silicicum und Kalium arsenicosum (neben anderen Arzneien, die ich hier, um nicht unnötige Verwirrung zu stiften, gar nicht erwähne). Die Suche setzte sich über längere Zeit fort, während dessen sich teilweise Erfolge einstellten, anderseits wieder Abstürze in ihr ursprüngliches Leiden eintraten.

Ich musste schließlich einsehen, dass der ursprüngliche Ansatz und der Heilungsversuch über die Carcinosin-Problematik nicht weiterführen würde und wandte mich dem anderen Miasma zu, das sich anbot, nämlich der Sykose. Sie manifestierte hier sich in der Anfälligkeit für Blasenentzündungen und auch - nach meiner eigenen Arbeitsstruktur - dem Hervortreten von Eigenschaften, die man den Natrium-Salzen zuschreibt, allen voran dem Natrium muriaticum - auch die nach dem Erwachen wahr erscheinenden Träume gehören zu dessen Arzneimittelbild.

Nun sah ich aber gute Gründe für eine kombinierte Arznei, erzielte zeitweise eine angenehme Stabilisierung mit Natrium phosphoricum, um schließlich zu Natrium silicicum zu kommen. Und ab diesem Zeitpunkt hatte die Homöopathie Oberhand über ihre Probleme. Sie hatte keine Infekte mehr, der Gesichtsschmerz verschwand vollständig, ihre Ängste ließen sie in Ruhe und ihr Nachtschlaf war untadelig. Und dieser Zustand währt nun schon etliche Monate, das Mittel konnte einige Male wiederholt werden in Einzelgaben von C200, um jedes Mal prompt eine schöne Wirkung zu erzielen.

 

[Stefan Reis]

1. Kleine und große Arzneimittel

Wer kennt nicht die Einstufung der homöopathischen Arzneien in „große" und „kleine" Mittel. Dabei meint „groß", daß das entsprechende Mittel gut geprüft und häufig eingesetzt wurde - somit viele klinische Bestätigungen erfahren hat. Aus diesen Gründen erhält es dann den Status eines sogenannten Polychrests. Die „kleinen" Arzneimittel dagegen wurden bislang entweder insgesamt nur selten verordnet oder nur bei eng umrissenen Symptombildern angegeben, zum Teil auch bei gewissen klinischen Indikationen, bei denen sie in der Regel aufgrund der Lokalsymptomatik oder eines einzelnen Leitsymptoms verordnet werden. Soweit sie überhaupt in nennenswerter Häufigkeit gebraucht werden, handelt es sich meist um akute Erkrankungen oder akute Exazerbationen chronischer Störungen.

Oft werden diese Kategorien auch als „wichtig" und „weniger wichtig" mißverstanden. Man glaubt, daß „kleine" Mittel seltener angezeigt und weniger wirksam seien als ihre „großen Brüder". Dieses Vorurteil gilt es zu revidieren - sonst wird man kaum einmal ein bislang unterschätztes oder ein neu in die Materia medica eingeführtes Arzneimittel seinem wahren Wirkungspotential gemäß einsetzen können!

Ob ein Arzneimittel als „groß" oder „klein" eingestuft wird, ist vor allem abhängig von seinem Bekanntheitsgrad. Dieser wiederum steigt mit einer gut durchgeführten und dokumentierten Arzneimittelprüfung, sowie mit möglichst zahlreichen und an exponierter Stelle veröffentlichten Kasuistiken. Er beruht also nicht zuletzt darauf, ob diese Informationen den praktizierenden Homöopathen zugänglich sind.

Diesbezüglich gute Voraussetzungen haben die Mittel, welche in die Hauptwerke der homöopathischen Materia medica Eingang gefunden haben, das heißt vor allem in

T.F. Allens Encyclopedia of pure Materia Medica und die Guiding Symptoms of our Materia Medica von C. Hering (et al.). Mit Einschränkung kann noch J.H. Clarkes Dictionary of practical Materia Medica dazugezählt werden, sowie die von R. Hughes und J.P. Dake herausgegebene Cyclopaedia of Drug Pathogenesy.

Daß ein Arzneimittel in einer umfangreichen und weit verbreiteten Arzneimittellehre verzeichnet ist, garantiert jedoch nicht seinen angemessenen Einsatz in der Praxis.

Ich will zwar nicht behaupten, daß es hinsichtlich der Indikationshäufigkeit keinen Unterschied zum Beispiel zwischen Blatta und Sulphur gäbe. Es ist nur so, daß neben der, man könnte sagen: dem Mittel innewohnenden, mehr oder minder umfangreichen Heilkraft auch - fast schicksalhaft - der homöopathische Zeitgeist und die Verfügbarkeit der Informationen die Einsatzhäufigkeit und damit wiederum das Erkennen der Heilkraft eines Arzneimittels mitbestimmen.

Wie kommt es nun, daß zum Beispiel Nat-c, der Ruf eines eher „kleinen" Mittels anhaftet? Obwohl es umfangreich geprüft worden ist, sind praktische Erfahrungen, oder, besser gesagt, Kasuistiken, welche die Bewertung der Prüfungssymptome ermöglichen würden, vergleichsweise spärlich veröffentlicht worden. Dies führt dazu, daß Natrium carbonicum von den Autoren der Arzneimittellehren weniger eingehend, zuweilen auch gar nicht, beschrieben wird, dadurch dem Lernenden kaum einmal als studierenswert unterkommt und so, selbst in geeigneten Fällen, mangels Vertrautheit nicht berücksichtigt wird.

Bei Samuel Hahnemann umfaßt die Pathogenese von Natrium carbonicum 1082 Symptome, was nicht wenig ist. Zusammen mit den bekannten klinischen Symptomen ergibt sich ein interessantes Bild.

Betrachtet man nun allein die psychischen Symptome, läßt sich leicht eine auffallende Ähnlichkeit mit einem anderen, wesentlich bekannteren Mittel konstatieren:

·         „Abneigung gegen die Menschheit und gegen die Gesellschaft; Entfremdung von Einzelnen und von der Gesellschaft, sogar von ihrem Ehemann und ihrer Familie."

·         „Ruhelosigkeit, mit Anfällen von Ängstlichkeit, vor allem während eines Gewitters; schlimmer durch Musik." „Ängstlichkeit beim Gewitter minder als sonst. (Heilwirkung.)"

·         „Menschenscheu und furchtsam." - „Er flieht die Menschen."

Wer die Grundzüge der „wichtigsten" Mittel der homöopathischen Materia medica im Kopf hat, wird gleich die Ähnlichkeit zu Sepia erkannt haben. Tatsächlich wird Sepia bei der geschilderten Konstellation oft blindlings verordnet, obwohl doch - das zeigt im übrigen auch das Repertorium - zumindest Nat-c. vor der Hand ebenfalls als sehr ähnlich erscheinen muß.

Auch andere Symptome sprechen für beide Mittel. So deckt Nat-c. wie Sepia das Abwärtsdrängen im Uterus, die Abneigung gegen Milch beziehungsweise Diarrhoe durch Milch, etc. Natürlich gibt es auch unterscheidende Merkmale und Symptome, die das eine Mittel aufweist, das andere aber nicht. Dennoch: die Verordnung aufgrund der genannten psychischen Symptome führt - sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Zeitnot - beinahe stets zu Sepia, selten oder nie zu Natrium carbonicum. Man darf jedoch vermuten, daß so mancher vermeintliche Sepia-Fall auch mit Natrium carbonicum zur Genesung kommen beziehungsweise sogar schneller geheilt werden könnte.

Das genannte Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit eines eingehenden Studiums der homöopathischen Materia medica und die Wichtigkeit einer Verabschiedung von „Lieblingsmitteln", die schon Hahnemann eine Warnung wert waren.

Um nicht mißverstanden zu werden: Auch ich verordne Sepia wesentlich häufiger als Natrium carbonicum, vielleicht sogar häufiger als jedes andere Mittel. Ein Vergleich zweier Arzneimittel, wie er oben gemacht wurde, ist ausserdem nur mit Einschränkung aussagekräftig. So hat die Praxis gezeigt, daß die aufgelistete Symptomenkombination in Sepia-Fällen sehr oft zugegen ist, während es sein mag, daß sie bei Nat-c.-Fällen seltener auftritt. Mancher Praktiker wird Natrium carbonicum ohnehin nicht für ein „kleines" Mittel halten. Aber so ist das eben: Die individuelle praktische Erfahrung trägt dazu bei, daß das Mittel X dem einen selten, dem anderen häufiger angezeigt zu sein scheint.

Was aber soll man davon halten, wenn zum Beispiel Medorrhinum von einem Homöopathen als eines der wichtigsten homöopathischen Arzneimittel gepriesen wird, bei einem anderen dagegen hinsichtlich der Verordnungsfrequenz nur unter „ferner liefen" rangiert? Glaubt jemand allen Ernstes, daß der eine Kollege mehr Med.-Fälle in die Praxis bekomme als der andere? Ein Thema, das aber später einmal an anderer Stelle diskutiert werden muß! Hier bleibt nur festzuhalten, daß bei zu einseitiger Beschäftigung mit der Materia medica an die weniger bekannten Arzneimittel zu selten gedacht wird und so manches Mittel „einmal klein - immer klein" bleibt.

Klein bleibt ein Arzneimittel noch aus anderen Gründen:

Die Symptomatik des Mittels ist nur ungenügend erforscht. Es ist nicht oder nur fragmentarisch am Gesunden geprüft worden, und seine Anwendung leitet sich lediglich von diesen wenigen Prüfungsergebnissen ab, beziehungsweise von volksmedizinischen Verwendungszwecken, durch die es oft überhaupt erst Homöopathen auffällt.

Viele Arzneimittel sind unter besonderer Beachtung einer schon bekannten Indikation geprüft worden und die Ergebnisse wurden vor allem diesem Blickwinkel entsprechend ausgewertet, so daß andere Symptome unter den Tisch fielen. Entsprechende Veröffentlichungen, bei denen es sich oft nicht einmal um Arzneimittelprüfungen, sondern bloße Therapiestudien handelt, vertiefen in der Folge den Eindruck, es mit einem spezifischen Arzneimittel zu tun zu haben. Von einer solchen Einstufung besonders betroffen sind die Arzneimittel, die von der sogenannten naturwissenschaftlich-kritischen Richtung der Homöopathie in die Materia medica eingeführt wurden. Als Beispiel sei nur Galphimia glauca genannt, dessen klinisch belegte Wirksamkeit bei der Pollinosis an mögliche weitere Anwendungsgebiete nicht mehr denken zu lassen scheint.

Aber auch in der genuinen Homöopathie gibt es die „kleinen" Mittel. Meist sind es die, von denen nur ein, vielleicht zwei Leitsymptome (oder Keynotes) bekannt sind.

Sind diese Leitsymptome zugegen, darf man das Mittel mit einigem Zutrauen verordnen und Heilung erwarten. So ist Abies nigra angezeigt bei einem Gefühl wie von einem unverdauten hartgekochten Ei im Magen. Dabei muß der Umstand berücksichtigt werden, daß Abies-n. an lediglich vier Personen geprüft wurde, von denen drei zudem nur die Tinktur einnahmen. In Allen Encyclopedia sind kaum 50 Symptome verzeichnet. Es kann sicher davon ausgegangen werden, daß eine Nachprüfung zahlreiche weitere Symptome zu Tage fördern würde.

Ein anderes Beispiel: Wenn der Kranke ständig an den roten, entzündeten Stellen, zum Beispiel an den Lippen oder der Nase, zupfen muß, obwohl der Schmerz dadurch um so unerträglicher wird, denkt man sogleich an Arum triphyllum. Derartige Keynotes kennt man freilich auch von den Polychresten. Eine Angina, die auf der rechten Halsseite beginnt und auf die linke überwechselt, wobei der Halsschmerz durch warme Getränke besser wird, erfordert Lycopodium. Der Unterschied zwischen den „kleinen" und „großen" Mittel ist aber: Während wir an das Polychrest auch dann denken, wenn die Keynotes nicht alle vorhanden sind, fällt uns ein Mittel wie Rumex bei einem Husten bestimmt nicht ein, wenn er nicht durch Entkleiden verschlimmert wird.

Es sei an dieser Stelle ausnahmsweise eine Hypothese gestattet:

Jeder Stoff bringt bei einer lege artis durchgeführten homöopathischen Arzneimittelprüfung Symptome hervor. Diese erfahren zwar eine gewisse individuelle Färbung durch die Prüfer, aber es müssen doch Symptome sein, die dem Mittel quasi „innewohnen" und durch die Prüfung nur zutage gefördert werden. Im Grunde stehen somit die potentiellen Symptome schon zuvor fest. Je nachdem, ob die Arzneimittelprüfung an Personen ausreichender Anzahl, verschiedenen Alters und Geschlechts, mit unterschiedlichen Potenzen, etc. geschieht, besteht die Möglichkeit, möglichst viele - aber wohl nie alle! - der dem Mittel inhärenten Symptome hervorzulocken. Jede Nachprüfung wird, neben den schon bekannten, noch nie beobachtete Symptome verzeichnen.

Letztlich entscheidend für den Bekanntheitsgrad eines Mittels - und nur darauf basiert die fehlleitende Einteilung in „große" und „kleine" Mittel - ist die Frage, ob es in der Anfangszeit der Homöopathie bis zum Abschluß der Kompilationen T.F. Allens und C. Herings geprüft und in nennenswert hoher Zahl verordnet wurde. Nur dann ist gewährleistet, daß ausreichend Informationen über die entsprechende Arznei verfügbar sind. Nicht zuletzt ist der Publikationstermin einer Arzneimittelprüfung auch dafür verantwortlich, ob das Mittel in die Repertorien aufgenommen wurde oder nicht. In jüngerer Zeit eingeführten Mitteln dagegen haftet so etwas wie der Fluch der späten Geburt an.

 

 

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